VDA-Präsidentin

„Die EU hat ihre Hausaufgaben nicht erledigt“

Hildegard Müller erwartet von Brüssel und einer neuen Bundesregierung mehr Unterstützung. Die Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie fordert im Interview mit dieser Zeitung auch Kompromisse beim Umstieg vom Verbrennerantrieb auf E-Mobilität.

Verbandschefin Hildegard Müller sagt im Interview:  „Wenn der Standort Deutschland nicht bald wettbewerbsfähiger aufgestellt wird, fließt immer mehr Produktion ins Ausland ab.“

© Lichtgut/Leif Piechowski

Verbandschefin Hildegard Müller sagt im Interview: „Wenn der Standort Deutschland nicht bald wettbewerbsfähiger aufgestellt wird, fließt immer mehr Produktion ins Ausland ab.“

Von Peter Stolterfoht, Anne Guhlich, Joachim Dorfs und Matthias Schmidt

Pressehaus Stuttgart, IHK Oberndorf, Neujahrsempfang in Dornhan/Schwarzwald– und das ist an diesem Tag nur das Nachmittagsprogramm. Hildegard Müller ist gerade eine sehr gefragte Frau. Und überall soll die Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie eine Antwort darauf geben, wie es denn nun weitergeht mit der schwächelnden Branche. „Wir waren immer dann am besten, wenn wir uns den Zukunftsthemen gestellt haben“, sagt die Cheflobbyistin im Interview mit dieser Zeitung.

Frau Müller, Sie sind nicht nur Fan des FC Bayern, sondern auch Mitglied beim Fußballrekordmeister …

... und dazu noch Mitglied im Verwaltungsbeirat.

Wie konnte es für eine in Rheine geborene Westfälin soweit kommen?

Es setzt bei mir ein mit der ersten bewusst erlebten WM 1974 in Deutschland. Es waren eben viele richtig gute Bayern-Spieler dabei, die damals den Titel holten. Sepp Maier und Paul Breitner haben tiefen Eindruck auf mich hinterlassen – und das in einer Familie mit einem Schalke-Fan als Vater, einem Bruder, der zu Mönchengladbach hielt und einer Schwester mit großer Sympathie für den VfB Stuttgart.

Sie sind auch Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Beeinflusst der Glaube Ihr Amt als Präsidentin des Verbandes der deutschen Automobilindustrie?

Im Glauben liegt für mich prinzipiell immer Ermutigung, er macht mich hoffnungsvoll. Das passt auch gut zum Rheinland, wo ich schon lange wohne - da sind die Menschen von Natur aus Optimisten. Und aus dem Glauben schöpfe ich Kraft und auch das Wissen, manchmal mit der ein oder anderen Frustration umzugehen. Aber in der Hauptsache, dass ich meine Arbeit in erster Linie auch als Erfüllung ansehe.

Frustrationspotenzial bringt auch die Transformation mit sich, die gerade die Autoindustrie von Grund auf verändert.

Frustration ist hier das falsche Wort. Transformationen bewegen die Menschen, machen Sorgen und Ängste, schaffen aber auch Hoffnung und Zuversicht auf Neues. In solchen Zeiten können die Kirche und der Glauben Halt geben. Das sieht man an den organisierten Christen in der Automobilindustrie, denen wir als VDA auch eine Bühne geben, zum Beispiel mit einem Stand auf der Internationalen Automobilausstellung IAA. Für mich ist der Glaube auch Orientierung mit Blick auf Sozial- und Umweltpolitik, bei der es ja um die Bewahrung der Schöpfung geht.

Hersteller wie Porsche und Mercedes investieren wieder verstärkt in Verbrennungsmotoren. Gleichzeitig wird in den USA, in Teilen von Europa und auch in deutschen Parteien der Klimawandel als Fake bezeichnet. Wenn später auf die heutige Zeit geblickt wird, sagen wir dann: Das war der Moment, als der Klimaschutz beerdigt wurde?

Nein, sicherlich nicht. Es ist falsch und hochgefährlich, den Klimawandel zu leugnen und die dringende Handlungsnotwendigkeit nicht wahrzunehmen. Deshalb werden bei uns sehr große Summen in die Transformation investiert. 320 Milliarden Euro weltweit allein für die Forschung und Innovation in den nächsten vier Jahren. Hinzu kommen etwa 220 Milliarden Euro in Sachinvestitionen, insbesondere in die Werke. Unsere Unternehmen investieren allein in Deutschland mehr in Forschung und Entwicklung als die drei wichtigen Wirtschaftszweige Elektroindustrie, Maschinenbau und Information/Kommunikation zusammen.

Und dennoch wird auf dem Weg zur Klimaneutralität gerade immer wieder der Rückwärtsgang eingelegt.

Niemand möchte zurück in die Vergangenheit. Wir waren in der Autoindustrie immer dann am besten, wenn wir uns den Zukunftsthemen gestellt haben. Und das mit dem Anspruch, die sichersten, die effizientesten, am besten vernetzten Fahrzeuge herzustellen. Nun sind und werden es auch die klimafreundlichsten. Das geht vielleicht nicht so schnell, wie mancher sich das wünscht, aber ‚Rückwärtsgang‘ ist definitiv falsch. Fakt ist: Das Ziel der Klimaneutralität gilt unverändert. Es so schnell wie möglich zu erreichen, liegt aber nicht allein in Händen der deutschen Autoindustrie. Was nützen die besten Elektroautos, wenn es keine gute Ladeinfrastruktur gibt?

Womit Sie die Politik in die Pflicht nehmen. In Deutschland wird bald gewählt. Was erwarten Sie von einer neuen Regierung?

Zunächst einmal brauchen wir wieder eine klare und führende Stimme in Europa. Diese Enthaltungsstrategie, weil sich Koalitionspartner nicht einigen konnten, ist falsch und fahrlässig. Deutschland konnte so oft nicht im eigenen Interesse verhandeln. Allianzen zu schmieden, Kompromisse zu finden, das war eigentlich immer eine Stärke Deutschlands, die zurückgewonnen werden muss. Das häufige Schwarz-Weiß-Denken schadet den Debatten und Entscheidungsfindungen rund um Transformation. Mittelwege haben hier viel bessere Erfolgsaussichten als kategorische Antworten, die oft auf Ausschließen oder auf Verbote setzen.

Zum Schwarz-Weiß-Denken gehört auch, dass die Politik auf die Autoindustrie zeigt, wenn es darum geht, das langsamer werdende Tempo der Elektrifizierung zu erklären - und umgekehrt.

Der Verweis entspricht nur nicht der Realität. Die Investitionen sind und werden getätigt, die Produkte sind auf dem Markt. Und wo wir besser werden können – Stichwort günstigere E-Autos, gibt es konkrete Pläne. Wir setzen auf den Erfolg der E-Mobilität – deswegen weisen wir auch so deutlich auf die notwendigen Rahmenbedingungen hin. Es ist nun mal so, dass die Autoindustrie zwar Ladesäulen, aber keine Stromnetze bauen und auch nicht den Energiepreis senken kann. Der ist bei uns drei- bis fünfmal so teuer wie bei relevanten Mitbewerbern in den USA oder China. Die Transformation hat ganz erhebliche Konsequenzen für die Autoindustrie, auch mit Blick auf die Beschäftigung. Und trotzdem gehen wir entschlossen diesen Weg, weil wir auch in Zukunft die modernsten und besten Autos bauen wollen.

Die EU-Richtlinien sehen für dieses Jahr Strafzahlungen vor, wenn Autokonzerne mit ihren Flotten bestimmte CO2-Grenzwerte nicht einhalten.

Die halte ich für falsch. Es ist ein Beispiel dafür, dass die Verantwortung allein der Autoindustrie zugeschoben wird, mit einem starren Grenzwert, der 2019 festgelegt worden ist. Erstens sah die Welt da noch anders aus, zweitens hat auch die EU ihre Hausaufgaben – Stichwort Ladeinfrastruktur, Energiepreise, Rohstoffbeschaffung – nicht erledigt.

Für das Produktangebot ist aber die Industrie zuständig. Die hiesigen Hersteller haben stark auf E-Autos der Luxusklasse gesetzt. Die entsprechenden Fabriken sind aber jetzt nicht ausgelastet. Gleichzeitig fehlen auf dem Markt weiterhin kleine, günstige deutsche Elektro-Autos. Warum?

Sie wissen, dass Modelle für 25 000 und 20 000 Euro in naher Zukunft angekündigt sind. Gleichzeitig gilt: Sie haben gerade zwei Dinge erwähnt, die zunehmend leider nicht zusammenpassen. Nämlich „hier bauen“ und „günstig bauen“. Wir haben neben den hohen Energiepreisen und Bürokratielasten noch hohe Arbeitskosten, die höchsten Sozialabgaben und die höchsten Steuern. Ich könnte die Reihe noch weiter fortsetzen. Das betrübt uns, weil wir natürlich günstigere Autos bauen wollen – für ein breites Angebot an die Verbraucherinnen und Verbraucher. Aber unter diesen Voraussetzungen ist das schwierig. Wenn der Standort Deutschland nicht bald wettbewerbsfähiger aufgestellt wird, fließt immer mehr Produktion ins Ausland ab.

Der VDA vertritt nicht nur die Hersteller, sondern auch die Zulieferer. Aus dem Südwesten haben Bosch, Mahle und ZF dazu Schaeffler und Continental direkt an Bundeskanzler Scholz geschrieben und um Unterstützung gebeten. Hilft das der gesamten Branche, wenn sie mit verschiedenen Stimmen spricht?

Das habe ich überhaupt nicht so wahrgenommen, weil sich das Anliegen zu 100 Prozent mit unseren Themen deckt. Es ist ein großer Vorteil und zentrale Säule, dass im VDA Hersteller und Zulieferer an einem Tisch sitzen. Die großen Dax-Unternehmen stehen sehr oft im Fokus, dabei ist der Mittelstand das Rückgrat der Autoindustrie! Viel zu oft wird er zu Gipfeln nicht eingeladen. Und deshalb sage ich zu diesen Unternehmen auch immer: Werdet lauter, nutzt eure Möglichkeiten.

Wie hoch ist das Risiko, dass immer mehr Arbeitsplätze aus Deutschland abwandern, wenn die deutschen Hersteller wegen neuer Zölle verstärkt in China oder in den USA produzieren?

Wir erleben gegenwärtig eine Rückkehr zum Protektionismus, die den freien Welthandel gefährdet. Kaum ein Land ist davon so betroffen wie Deutschland: 70 Prozent der Arbeitsplätze in der Autoindustrie stehen in Bezug zum Export. Gleichzeitig hat die deutsche Autoindustrie rund 140 000 Arbeitsplätze in den USA. Wir sind eine der am internationalsten aufgestellten Industrien weltweit. Wenn auf Zölle mit Gegenzölle reagiert wird, kommt eine Spirale in Gang, die nur dazu führt, dass die Kunden am Ende mehr bezahlen müssen. Statt Inflation zu bekämpfen, wie versprochen, heizt US-Präsident Donald Trump die Inflation in den USA an.

Wie sollte Europa reagieren?

Wir müssen alles dafür tun, jetzt proaktiv das Gespräch zu suchen und zu verhindern, dass es zu solchen Zöllen kommt. Und wir müssen gleichzeitig alles tun, um uns resilienter aufzustellen, etwa mehr Handelsabkommen mit anderen Regionen abschließen und somit auch Lieferketten und Rohstoffe absichern. Wirtschaftliche Stärke wird zunehmend zum entscheidenden Faktor.

Wird die Industrie die Krise überstehen? Oder müssen wir uns darauf einstellen, dass die Autoindustrie in Baden-Württemberg nie wieder die bisherige starke Rolle spielt?

Wir handeln, wir investieren – die Frage ist allerdings, ob die Jobs der Zukunft auch hier in Deutschland entstehen werden. Deswegen muss die kommende Regierung Standortpolitik zur Priorität machen. Dann wird die deutsche Automobilindustrie auch in Zukunft hier Innovationen produzieren können, von denen Menschen weltweit überzeugt sind. Also: Alle müssen die Ärmel hochkrempeln. Jetzt gibt es die Chance dazu, mit einer neuen EU-Kommission, einer neuen Bundesregierung. Es braucht eine umfassende Agenda – denn man ist nicht nur verantwortlich für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut.

Bei all den Problemen – wo und wie können Sie davon abschalten?

Ich merke, dass die Belastungen zunehmen. Früher habe ich jede freie Minute gelesen, heute fällt es mir schwerer abzuschalten. Die Familie und Freunde sind ein stabiler Anker, und die Gespräche mit Mitmenschen sind wichtig zur Reflexion. Richtig schwierig wird es in Krisen ja immer dann, wenn Menschen verstummen. Wenn man miteinander spricht, kann man Lösungen finden.

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Erstellt:
12. Februar 2025, 16:46 Uhr

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