Geologie

Die Geschichte der Eiszeit in der Nordsee wird neu geschrieben

Tief unter dem Nordseeschlick haben Geologen Landschaftsformen entdeckt, die ein neues Licht auf die Geschichte der Nordsee während der Eiszeit werfen und gängige Modelle widerlegen.

Eisschollen bei St. Peter Ording: So könnte es auch in der Eiszeit an der Nordsee ausgesehen haben.

© Imago/Panthermedia

Eisschollen bei St. Peter Ording: So könnte es auch in der Eiszeit an der Nordsee ausgesehen haben.

Von Markus Brauer

Die Nordsee hat eine bewegte Geschichte hinter sich. In der Eiszeit war das Meer und seine angrenzenden Regionen von Gletschern bedeckt, die hunderte Meter dick waren. Als sie sich rund 12.000 Jahren zurückzogen, hinterließen sie tief eingekerbte Schluchten und hohe Kliffs, wie seismische Daten enthüllen.

Diese nacheiszeitliche Landschaft bildete das fruchtbare Doggerland, das von steinzeitlichen Gruppen besiedelt wurde und vor circa 8000 Jahren im Meer versank.

Zwei unterschiedliche Szenarien

Strittig ist bis heute, wie und wann die Nordsee zu Beginn der letzten Eiszeit vergletscherte:

  • Einem Szenario zufolge rückten die Gletscher aus Skandinavien und von den Britischen Inseln während des mittleren Pleistozäns vor 1,3 Millionen bis 800.000 Jahren bis in die Nordsee vor. Die Gletscher sollen mehrmals vorgerückt und wieder zurückgewichen sein, so dass die Nordsee immer wieder eisfrei war.
  • „Im Gegensatz dazu postuliert das Modell einer ‚frühen Vereisung‘, dass es schon weit früher, im frühen Pleistozän, auf Grund liegende Eisschilde in der zentralen Nordsee gab“, erklären Dag Ottesen vom Geologischen Dienst Norwegens in Trondheim und seine Kollegen. Demnach vereinten sich die von beiden Seiten vorrückenden großen Eisschilde schon vor 1,9 bis 1,8 Millionen Jahren und bedeckten die Nordsee ab dann komplett.

Was seismische Daten über eiszeitliche Strukturen verraten

Doch welches Szenario stimmt? Dieser Frage sind jetzt nun Ottesen und sein Team nachgegangen. Sie werteten seismische 3D-Daten aus, die ursprünglich für die Suche nach Erdöl- und Erdgas sowie für die Bewertung von Standorten für Offshore-Windparks erstellt worden waren.

Die Daten zeigen die Schichten, die in den verschiedenen Phasen des Eiszeitalters die Nordseeoberfläche bildeten. „Diese 3D-Seismikdaten ermöglichen es uns, die unter dem Nordsee-Sediment vergrabenen Landschaften in erstaunlichem Detail zu untersuchen“, erklärt Ottesen.

Ihre Studie ist im Fachmagazin „Science Advances“ erschienen.

3D seismic evidence for a single Early Pleistocene glaciation of the central North Sea • Science Advances https://t.co/Lqp75HWSpApic.twitter.com/UYBd9LPv4M — Nirmata (@En_formare) December 14, 2024

Nordseegrund von „Pockennarben“ überzogen

Die Auswertungen enthüllen mehrere sehr unterschiedliche Landschaftsformen unter dem Schlick der Nordsee. Demnach war der Nordseegrund vor rund 1,7 Millionen Jahren von rundlichen und elliptischen „Pockennarben“ übersäht.

„Die runden Pockennarben sind durch das Austreten von Flüssigkeit aus den darunterliegenden Sedimenten entstanden“, schreiben die Forscher. Diese wenige Meter tiefen Krater wurden dann jedoch durch darüber strömendes Meerwasser verformt und bildeten elliptische, nach Süden hin flach auslaufende Senken.

Nordsee war bis vor 1,1 Millionen Jahren eisfrei

In späteren Schichten aus der Zeit bis vor 1,1 Millionen Jahren entdeckten die Geologen ebenfalls Strukturen, die unter Wasser entstanden sein müssen. Der Untergrund war von kilometerlangen, leicht gewellten Rinnen durchzogen, die bis zu 1,5 Kilometer breit und 50 Meter tief waren.

„Solche Konturströmungsfurchen entstehen, wenn sich schnelle Strömungen entlang von Unterseehängen in das Sediment fressen“, erklären die Geologen. Diese Furchen sind wohl in 100 bis 300 Meter Wassertiefe entstanden.

Anders als bisher angenommen, muss die Nordsee bis vor rund 1,1 Millionen Jahren noch eisfrei gewesen sein. „Mithilfe unserer hochauflösenden Daten können wir klar erkennen, dass diese Rinnen auf ozeanische Strömungen zurückgehen müssen“, erläutert Ottesen.

Ihre gewellte Form, unregelmäßige Breite und große Tiefe unterscheide diese Furchen klar von unter Gletschern entstandenen Strukturen. „Das widerspricht vorherigen Interpretationen dieser Strukturen als glazialen Landschaftsformen.“

Hardanger-Vereisung : Stärkste Vereisung der Nordsee

Die unter dem Sediment verborgenen Landschaftsformen verraten auch den Zeitpunkt der Vereisung der Nordsee. Rund 2000 bis 700 Meter unter dem heutigen Meeresgrund identifizierten die Geologen eine 50 bis 120 Meter dicke Schicht Geschiebemergel. Dieses Material wird an der Basis von Gletscher abgelagert. „Diese Schicht ist an der Nordostseite des Nordseebeckens am dicksten und dünnt nach Südwesten hin aus“, berichten die Forscher.

Ein großer Eisstrom könnte demnach vor rund 1,1 Millionen Jahren von Skandinavien aus bis in die zentrale Nordsee vorgerückt sein. Dieser Gletschervorstoß markierte die stärkste Vereisung der Nordsee, wie die Geologen erklären. „Wir schlagen vor, dieses Ereignis Hardanger-Vereisung zu nennen, nach der Hardanger-Provinz in Westnorwegen.“

„Eiszeitgeschichte der Nordsee umgeschrieben“

„Zusammengenommen schreiben diese Ergebnisse unsere Vorstellungen der eiszeitlichen Geschichte der Nordsee um“, sagt Ottesen. Sie widerlegen zum einen das Modell der frühen Vereisung, schränken aber auch das „späte“ Modell ein. Denn anders als in letzterem angenommen, sind die Gletscher Skandinaviens und der Britischen Inseln nicht mehrmals, sondern nur einmal ins Gebiet der zentralen Nordsee vorgerückt.

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Erstellt:
2. Januar 2025, 09:42 Uhr
Aktualisiert:
2. Januar 2025, 11:06 Uhr

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