Aufarbeitung der Pandemie
Die Gesellschaft der Nach-Corona-Zeit ist polarisiert, gespalten, traumatisiert
Auf vielen Ebenen läuft die Aufarbeitung der Pandemie längst, nur die Politik hinkt hinterher. Dabei wäre das besonders wichtig.
Von Norbert Wallet
Ist das wirklich schon wieder fünf Jahre her? Ende Januar 2020 wurde in einer eilig anberaumten Pressekonferenz von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) der erste deutsche Coronafall offiziell bekannt gemacht. Ein 33-jähriger Mitarbeiter einer Starnberger Firma hatte sich bei einer Kollegin angesteckt, die frisch aus China zurückgekommen war.
Fünf Jahre sind eine politische Ewigkeit. Inzwischen ist bereits die Nachfolgeregierung gescheitert. Corona ist besiegt. Jedenfalls als Pandemie. Aber was heißt das schon – besiegt? Diese Vergangenheit will nicht vergehen. Sie ist noch immer Gegenwart. Nicht als akute pandemische Bedrohung. Aber noch heute klagen Jugendliche über die psychischen Folgen der langen Zeit, als Schulen geschlossen und das Ausgehen verboten war. Noch heute leiden Menschen unter den Langzeitfolgen des Virus. Die Bundesregierung geht von einer sechsstelligen Zahl von Betroffenen aus. Und bis heute wird eine heftige Debatte darüber geführt, was aus der Zeit zu lernen sei.
Geisterspiele im Geisterleben
Eine Zeit im buchstäblichen Ausnahmezustand. Der hieß nicht so, sondern „pandemische Lage von nationaler Tragweite“. Als das Sitzen auf einer Parkbank eine Ordnungswidrigkeit bedeuten konnte. Als Angehörige ihre engsten Verwandten in den Altenheimen nicht mehr besuchen durften. Als selbst Beerdigungen strengsten Auflagen zu genügen hatten. Als Geschäfte und Gastronomie geschlossen, Fußballspiele ohne Kulisse ausgetragen wurden. Geisterspiele in einem Geisterleben. Und während im Lockdown die Begegnung mit Freunden zur illusionären Wunschvorstellung verkam, war doch wenigstens eines so präsent wie nie: ein Staat, der in erschreckender Drastik in privateste Lebenszusammenhänge eingriff, durchgriff, übergriff.
Unsere Gesellschaft ist seither eine andere. Gespalten. Polarisiert. Traumatisiert wohl auch. Die erbitterte Debatte um die Impfungen hat Menschen – zurecht oder nicht – ausgegrenzt. Dieses umgehende Gefühl von Verstörung und Verletzung hat zu einem Gären geführt, zu einem gesellschaftlichen Nährboden, auf dem Verschwörungsmythen gedeihen wie Pilze im feuchten Waldboden. Das Erschrecken über einen Staat, der in seiner Schutzabsicht, seinem Schutzauftrag so weitgehend ins Private hineinregierte, hat Populisten von rechts wie links scheinlegitime Argumente an die Hand gegeben. Da gerieren sich radikale Vereinfacher plötzlich als Schutzbund gegen „die da oben“. Und es ist eine Empfindlichkeit gewachsen gegen alles staatliche Handeln, das nicht im Ungefähren bleibt, sondern handfeste Folgen hat. Auch die Aufregung um das Heizungsgesetz der Ampel findet hier eine Nebenerklärung.
Lauterbach hat Fehler eingeräumt
Das alles ruft mächtig nach einer Nachbetrachtung, einer kritischen Bilanz, auch nach Worten der Versöhnung. Die Politik hat Pannen eingeräumt. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat Fehler zugegeben, die langen Schulschließungen vor allem und den Umgang mit den Heimbewohnern. Aber eine systematische parlamentarische Aufarbeitung gibt es nicht. Die Ampel hatte sich nicht auf das geeignete Instrument einigen können. Die FDP wollte eine Enquete-Kommission, die SPD wollte einen Bürgerrat. Und über allem stand die Befürchtung, welches Gremium auch immer mit der Aufarbeitung der Corona-Zeit eingesetzt werden würde, könnte zu einem Scherbengericht über die handelnden Politiker missbraucht werden.
Es sind so viele unterschiedliche Motive im Spiel. Das macht es völlig unklar, was eigentlich mit Aufarbeitung gemeint ist. Die Radikalen wollen buchstäblich Handschellen klicken hören. AfD-Mann Höcke sagte bei einem Wahlkampf-Auftritt in Gotha über Lauterbach: „Der Mann sollte nicht nur zurücktreten. Meiner Meinung nach gehört er in Handschellen abgeführt.“ Auch auf dem Parteitag der Wagenknecht-Partei blühten die Verschwörungsmythen. Der Journalist Paul Schreyer sprach als Gastredner von einer „internationalen autoritären Entgleisung“.
Aufarbeitung auf vielen Ebenen
Aber die Wahrnehmung ist falsch, dass Aufarbeitung nicht geschähe. Sie hat sich auf andere Ebenen verlagert als den parlamentarischen: die juristischen zum Beispiel und die medizinischen. Das Verwaltungsgericht Osnabrück hat angeordnet, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht erneut vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden muss. Die Kammer führt aus, dass diese Pflicht „in die Verfassungswidrigkeit hineingewachsen“ sei, ohne dass der Staat darauf reagiert habe. Das Gericht verweist dabei auf die inzwischen veröffentlichten Protokolle des Robert Koch-Instituts (RKI). Im Oktober 2022 vermerkt das Protokoll den Hinweis eines RKI-Mitarbeiters, wonach man aus Altenheim-Ausbrüchen wisse, „dass die Wirkung der Impfung eher überschätzt wird. Schwieriges Thema, sollte nicht im Impfbericht formuliert werden.“ Nun muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden.
Die medizinische Debatte um Konsequenzen aus der Pandemie war von Anfang an intensiv und bereits in der Corona-Zeit gab es zahlreiche Reformen, viele davon vom Gesundheitsministerium angestoßen. Karl Lauterbach zählte jüngst in einem Interview auf: „Wir haben die Regeln im Infektionsschutzgesetz, das Eingriffe des Staates in Notlagen erlaubt, komplett überarbeitet, die Rolle des Parlaments darin gestärkt. Um eine steigende Viruslast früher zu erkennen, haben wir ein Abwassermonitoring eingerichtet. Neu ist auch die Art, wie die Krankenhäuser ihre Betten zählen. Vorher sind dabei Betten gezählt worden, die gar nicht einsatzfähig waren.“ In kaum einen anderen gesellschaftlichen Bereich hat die Digitalisierung einen solchen Schub bekommen.
Politik braucht manchmal große Gesten
Aber reicht das? Die gesellschaftliche Verstörung ist durch staatliches Handeln verursacht worden. Das ist der Kern. Die Frage, ob der Staat in seiner Kommunikation gezielt auf eine Strategie der Einschüchterung gesetzt habe, muss öffentlich breit diskutiert werden. Wenn Karl Lauterbach von der „Killervariante“ des Virus sprach oder von der „Geiselhaft“, in denen Ungeimpfte die Gesellschaft nähmen, gebührt einer Wiedervorlage.
Lauterbach geht dieser Diskussion nicht aus dem Weg. „Der Lockdown wäre früher zu Ende gewesen, wenn noch mehr Leute sich hätten impfen lassen. Und als wir darüber diskutiert haben, starben pro Tag immer noch 200 Menschen an Corona“, sagt er. Auch der Virologe Christian Drosten spricht davon, dass manche Wissenschaftler „die essenziellen Kennzahlen vergessen“ hätten und „die meisten Privatpersonen haben die wahrgenommene und reale Bedrohung verdrängt“ hätten.
Politik braucht manchmal große Gesten. Kann es die im Sinne einer Versöhnung geben? Noch immer laufen Verfahren wegen Maskenverstößen. Es gibt Vorschläge, Bußgelder zurückzuzahlen, wenn sie aufgrund aus heutiger Sicht unsinniger Vorschriften verhängt wurden, etwa weil Menschen von ihren sterbenden Angehörigen Abschied nehmen wollten. Das wäre zu bedenken.