„Die Kinder so annehmen, wie sie sind“

Das Interview: Schulamtsdirektor Roland Jeck warnt vor falschem Ehrgeiz bei der Wahl der weiterführenden Schule – Grundschulempfehlung gibt Orientierung

Gymnasium, Realschule oder Gemeinschaftsschule? Die Eltern der Viertklässler haben in den kommenden Wochen die Wahl. Orientierung bietet dabei die Grundschulempfehlung, die seit 2012 aber nicht mehr verbindlich ist. Wie sie zustande kommt und worauf es bei der Schulwahl ankommt, erklärt Roland Jeck, stellvertretender Leiter des Staatlichen Schulamts Backnang, im Interview.

Die Grundschullehrer erleben die Kinder jeden Tag im Unterricht, ihre Einschätzung mündet in der Grundschulempfehlung. Ob sich die Eltern daran halten, ist allerdings ihre Entscheidung, denn die weiterführende Schule kann grundsätzlich frei gewählt werden. Foto: Monkey Business/stock.adobe.com

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Die Grundschullehrer erleben die Kinder jeden Tag im Unterricht, ihre Einschätzung mündet in der Grundschulempfehlung. Ob sich die Eltern daran halten, ist allerdings ihre Entscheidung, denn die weiterführende Schule kann grundsätzlich frei gewählt werden. Foto: Monkey Business/stock.adobe.com

Von Kornelius Fritz

In diesen Tagen erhalten die Eltern der Viertklässler die Grundschulempfehlungen für ihre Kinder. Wie kommen diese Empfehlungen eigentlich zustande?

Die Grundschulempfehlung ist eine pädagogische Gesamtwürdigung aller erbrachten Leistungen der Kinder. Da schauen die Lehrer nicht nur auf das aktuelle Schuljahr, sondern auch auf die Jahre davor. Es werden verschiedene Dinge mit einbezogen: natürlich die kognitive Leistung der Kinder, aber auch Dinge wie zum Beispiel Projektarbeiten. Man versucht, die Kinder rundum anzuschauen und zu sehen, wo sind sie von ihrem aktuellen Leistungsstand und was sieht man für ein Potenzial im Hinblick auf die weiterführenden Schulen.

Welche Rolle spielt der Notenschnitt für die Empfehlung?

Er dient als Orientierung. Bei einer Deutsch- und Mathematiknote bis 2,5 geht man in der Regel von einer Gymnasialempfehlung aus, bis 3,0 wäre es mittleres Niveau, also Realschulempfehlung und darunter gibt es dann die Hauptschulempfehlung. In allen Fällen wird außerdem grundsätzlich eine Empfehlung für die Gemeinschaftsschule ausgesprochen. Aber es ist wie gesagt eine Gesamtwürdigung. In der Klassenkonferenz beraten die Lehrkräfte über jedes einzelne Kind. Wenn sie bei einem Schüler, der diesen Schnitt nicht hat, dennoch das Potenzial für die Schulart sehen, ist es auch möglich, die entsprechende Empfehlung zu geben.

Wie zuverlässig sind denn diese Empfehlungen? Ist eine sichere Prognose, wie ein Kind später beispielsweise auf dem Gymnasium zurechtkommen wird, bei einem Zehnjährigen überhaupt schon möglich?

Die Prognose kann natürlich immer nur vom aktuellen Stand ausgehen. Wenn wir das Beispiel Gymnasium nehmen: Da geht es einerseits um Begabung, aber auch um das Lern- und Arbeitsverhalten. Und wenn ein Kind zwar die Begabung hat, aber im Lern- und Arbeitsverhalten zurückbleibt, kann es sein, dass es in den unteren Klassen vielleicht noch mitkommt, es aber dann im Lauf der Jahre Probleme gibt. Garantien kann da niemand geben.

Was raten Sie Eltern, die Zweifel an der Beurteilung der Lehrer haben?

Diesen Eltern rate ich, das Beratungsverfahren zu wählen. Erfahrene Beratungslehrer, die an die schulpsychologische Beratungsstelle angekoppelt sind, sprechen dabei mit den Eltern und können, wenn diese einverstanden sind, auch Begabungstests mit dem Kind durchführen. Die Eltern haben anschließend trotzdem die Möglichkeit, frei zu entscheiden. Sie haben also keinen Nachteil, und das Aufnahmeverfahren der weiterführenden Schulen ist erst abgeschlossen, wenn auch das Beratungsverfahren zu Ende ist.

Die Empfehlung ist seit einigen Jahren nicht mehr verbindlich, das heißt, Eltern können ihr Kind auch entgegen der Empfehlung auf einer anderen Schulart anmelden. Wie hoch ist der Prozentsatz der Eltern, die sich nicht an die Empfehlung halten?

Dazu gibt es nur landesweite Zahlen. Im vergangenen Schuljahr lag der Anteil der Schüler, die ohne Gymnasialempfehlung auf einem Gymnasium angemeldet wurden, bei 11,5 Prozent. An den Realschulen ist der Anteil der Schüler ohne Realschulempfehlung wesentlich höher: Von den Fünftklässlern hatten dort 24 Prozent eine Haupt- oder Werkrealschulempfehlung und 20 Prozent eine fürs Gymnasium.

Was bedeutet das für die weiterführenden Schulen?

Das bedeutet, dass sich die Heterogenität vergrößert hat. Und das betrifft am stärksten die Realschulen. Als die Grundschulempfehlung noch verbindlich war, gab es dort auch schon viele Kinder mit Gymnasialempfehlung, aber nur wenige, die es trotz Hauptschulempfehlung über eine Aufnahmeprüfung auf die Realschule geschafft hatten. Das bedeutet schon eine Umstellung für die Schulen, auch die Gymnasien haben nicht mehr so homogene Gruppen. Aber auch die Schüler, die eine Gymnasialempfehlung bekommen, sind ja unterschiedlich: Da gibt es welche mit einem Notenschnitt von 1,2 und solche, die es gerade noch so geschafft haben.

Führt das unterschiedliche Leistungsniveau an den Gymnasien und Realschulen nicht dazu, dass das Niveau an den Schulen insgesamt sinkt, zulasten der begabten Kinder?

Das ist die Herausforderung für Lehrkräfte, dass sie ihren Unterricht so organisieren, dass er durch individuelle Lernanforderungen allen Schülern gerecht wird. Sie können keinen Unterricht machen, der für alle gleich ist. Das konnten sie aber auch früher nicht, weil sie ja immer Schüler mit unterschiedlichen Begabungen haben. Ich war selbst jahrelang Lehrer: Da gab es Schüler, die sehr begabt waren in Mathematik, aber ganz schwach in Deutsch und umgekehrt. Darauf muss man als Lehrer eingehen, in dem man den Schülern unterschiedliche Angebote macht. Das ist mehr Arbeit, aber es ist möglich.

Haben Sie Verständnis für Eltern, die sich nicht an die Empfehlung halten und ihr Kind an einer höheren Schulart anmelden? Dahinter steckt ja der Wunsch, seinem Kind die bestmögliche Bildung zu ermöglichen.

Ich habe in meiner Zeit als Schulleiter sehr viele Gespräche mit Eltern geführt und habe natürlich Verständnis dafür, dass alle Eltern das vermeintlich Beste für ihr Kind wollen. Aber ich habe auch erlebt, wie schwierig es ist, wenn Kinder permanent überfordert sind. Und ich habe andererseits viele Kinder erlebt, die über die Hauptschule oder die Werkrealschule in ihrem Tempo trotzdem einen hervorragenden Weg gegangen sind. Kinder haben nun mal unterschiedliche Begabungen, deshalb sind sie kein schlechterer oder besserer Mensch. Ich appelliere an die Eltern, ihre Kinder so anzunehmen, wie sie sind.

Umgekehrt gibt es auch Eltern, die ihr Kind beispielsweise an einer Realschule anmelden, obwohl es eine Gymnasialempfehlung hat, weil sie glauben, dass der Leistungsdruck dort nicht so hoch ist. Was halten Sie davon?

An den Realschulen haben wir damit gute Erfahrungen gemacht, weil diese Schülerinnen und Schüler in der Regel recht erfolgreich sind. Und wenn ich erfolgreich bin, macht es meistens auch Spaß. Viele dieser Schüler gehen anschließend dann noch auf die beruflichen Gymnasien und kommen so letztlich auch zum Abitur.

Aber ist es nicht besser, ein Kind auch ein bisschen zu fordern?

Sicher, aber einer Realschule ist es ja nicht verboten, gute Schüler auch auf einem höheren Niveau zu unterrichten. Im Normalfall freut sich ja jeder Lehrer, wenn er Schüler hat, die mehr Interesse zeigen als andere und sich vielleicht auch noch mehr einbringen.

Was würden Sie also Eltern raten, deren Kinder auf der Kippe stehen? Lieber erst mal am Gymnasium anmelden und schauen, ob es klappt oder auf Nummer sicher gehen und eine Real- oder Gemeinschaftsschule wählen?

Ich würde ihnen raten: Schauen Sie sich die Schulen an, gehen Sie zum Tag der offenen Tür, lassen Sie sich beraten und dann überlegen Sie: Welche Schule passt zu meinem Kind? Wo ich erfolgreich sein kann, ist sicherlich eher der richtige Platz als da, wo ich permanent Misserfolge und Frustration habe. Wenn ein Kind in der vierten Klasse nicht gerne lernt, warum soll es auf einmal in der fünften gerne lernen? Wir haben zum Glück ein System, das immer Anschlüsse anbietet, und das Leben ist nicht mit zehn oder elf Jahren abgeschlossen.

Welche Rolle sollte der Wunsch des Kindes bei dieser Entscheidung spielen? Viele wollen ja am liebsten auf die Schule wechseln, auf die ihre Freunde gehen.

Die Kinder können bei den Beratungsgesprächen mit dabei sein und ihre Wünsche äußern. Aber ich würde das nicht an die erste Stelle stellen. Wenn der beste Freund auf die Gemeinschaftsschule geht und ich aufs Gymnasium soll, ist das in dem Moment vielleicht nicht so attraktiv. Aber in der Regel zeigt sich, dass die Kinder ganz schnell wieder neue Freunde gewinnen. Und es ist ja auch eine Form des Lernens im Leben, dass man sich auf neue Situationen einstellt. Der Freund ist ja trotzdem noch da.

Wenn ein Kind unbedingt aufs Gymnasium will, könnte das aber vielleicht neue Motivation freisetzen.

Ja, das gibt es tatsächlich. Wenn ein Kind das entsprechende Arbeitsverhalten zeigt und sagt: Ich bin bereit, mich hinzusetzen und zu lernen, dann habe ich selbst schon erlebt, wie diese Kinder – zwar manchmal mühsam – aber trotzdem Erfolge erzielt haben. Aber das sind Einzelfälle.

Würden Sie sich wünschen, dass die verbindliche Grundschulempfehlung wieder eingeführt wird?

Nein. Ich habe das ja viele Jahre erlebt und es war ein großer Stress für alle Beteiligten. Die Fälle, in denen es einen Dissens gab, waren für die Lehrkräfte schwierig und für die Kinder war es auch nicht schön. Wenn ich alles abwäge und auch den Wunsch der Eltern berücksichtige, denke ich, dass die Vorteile der neuen Regelung überwiegen.

Roland Jeck ist Fachbereichsleiter Grundschulen im Staatlichen Schulamt.Foto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Roland Jeck ist Fachbereichsleiter Grundschulen im Staatlichen Schulamt.Foto: J. Fiedler

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Erstellt:
30. Januar 2019, 06:00 Uhr

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