Die meisten kommen aus Syrien und Afghanistan
Fluchtgründe der Minderjährigen reichen von Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten bis hin zur Prostitution.
Von Ingrid Knack
WAIBLINGEN. Sie haben ihre Heimat verlassen, weil sie dachten, dort keine Zukunft zu haben. „Fluchtursachen, die speziell bei Kindern und Jugendlichen gelten, sind Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten, Kinderhandel und Kinderprostitution, sklavenförmige Ausbeutung, Zwangsverheiratung, geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt. Ebenso haben viele junge Geflüchtete unter familiärer Gewalt gelitten, ohne angesichts traditioneller Familienformen die Möglichkeiten gehabt zu haben, sich in den Heimatländern woanders hinzuwenden, um dort Hilfe und Schutz zu erhalten“, schreiben Stefan Thomas, Madeleine Sauer und Ingmar Zalewski in ihrem Buch „Unbegleitete minderjährige Geflüchtete – ihre Lebenssituationen und Perspektiven in Deutschland“.
Im Rems-Murr-Kreis ist das Schullandheim Mönchhof (Kaisersbach) im Dezember 2015 als Inobhutnahmestelle für diese Personengruppe eröffnet worden. Bis 31. August 2016 wurde es für diesen Zweck genutzt. 90 unbegleitete minderjährige Ausländer (Uma) werden derzeit von der Kinder- und Jugendhilfe beziehungsweise den Jugendämtern im Kreis betreut. Sie leben in Alfdorf (2), Aspach (3), Auenwald (1), Backnang (7), Fellbach (2), Kaisersbach (1), Kernen im Remstal (1), Korb (1), Murrhardt (1), Plüderhausen (3), Remshalden (4), Rudersberg (4), Schorndorf (31), Waiblingen (7), Weinstadt (2), Weissach im Tal (1), Welzheim (5), Winnenden (8). Ferner sind 6 in Orten außerhalb des Kreises untergekommen. Die dem Rems-Murr-Kreis bisher zugeteilten Kinder und Jugendlichen kommen vor allem aus Syrien (31,5 Prozent) und Afghanistan (30,4 Prozent). Die nächstgrößten Gruppen sind im Irak (6,1 Prozent), in Gambia (4,8 Prozent) und in Somalia (4,6 Prozent) geboren.
Insgesamt wurden seit Mitte 2015 über 450 unbegleitete minderjährige Ausländer im Kreis betreut. Im Herbst 2016 waren über 300 Uma zeitgleich in der Betreuung, die höchste Zahl war mit 303 im Oktober 2016 erreicht. Bei der Zuweisung spielen Sollzahlen eine Rolle. Landratsamtssprecherin Martina Keck lässt dazu auf Nachfrage wissen: „Diese werden wöchentlich von der Landesverteilstelle beim Landesjugendamt mitgeteilt und sind der Maßstab, nach dem zugewiesen wird. Die Ist- und Sollzahlen lagen im Rems-Murr-Kreis immer sehr dicht beieinander. Aktuell liegt der Kreis mit vier Uma über dem Sollwert von 86.“ Da das Land Baden-Württemberg die bundesweite Quote mit 101,5 Prozent übererfülle, sei nicht damit zu rechnen, dass die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Ausländer im Rems-Murr-Kreis in nächster Zeit wieder ansteigen werde. Ohnehin sind nach dem Bericht der Bundesregierung zum Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher von 2020 die Zahlen in letzter Zeit kontinuierlich rückläufig.
Reaktion auf die veränderte Situation der Menschen aus Moria.
Der Rems-Murr-Kreis hat indes nach den Worten Kecks im September 2020 im Zusammenhang mit der Debatte um eine großzügigere Aufnahme von Flüchtlingen aus dem durch ein Feuer verwüsteten Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos nach Rücksprache mit den Einrichtungsträgern dem Sozialministerium Baden-Württemberg gemeldet, „dass wir ohne Weiteres fünf Uma zusätzlich unterbringen könnten“. Nach den Erhebungen des Bundesverwaltungsamtes ist der Großteil der vormals unbegleitet eingereisten ausländischen Minderjährigen zwischenzeitlich volljährig. Wie funktioniert in diesen Fällen der Übergang in die Selbstständigkeit? Dazu Keck: „Bevor unbegleitete minderjährige Ausländer aus der Jugendhilfe ausscheiden – altersbedingt oder weil sie keine weitere Jugendhilfe mehr wünschen –, findet mit den dann neu zuständig werdenden Kommunen ein Gespräch statt, in dem dieser Übergang thematisiert wird und mit allen Beteiligten – häufig auch Jobcenter und Bundesagentur für Arbeit – jeweils für den Einzelfall Lösungen besprochen beziehungsweise gesucht werden.“
Auch wenn die als Minderjährige allein nach Deutschland eingereisten Ausländer das Erwachsenenalter erreicht haben, können sie noch Hilfen gewährt bekommen. Der Fachbegriff für diese Personengruppe lautet „in der jugendhilferechtlichen Zuständigkeit verbliebene junge Volljährige“. In der Praxis wird aber meist weiterhin der Begriff Uma verwendet. Von den erwähnten 90 Uma im Kreis sind laut Martina Keck 65 bereits 18 oder älter.