Die Sehnsucht nach dem Ankommen
Wir schaffen das! Tatsächlich? (5): Für seine Familie sucht Moslem Ibrahim seit mehr als einem Jahr nach einer Wohnung. Die derzeitige Unterkunft ist für sieben Personen zu klein. Alle schlafen im gleichen Raum, der auch als Wohn- und Spielzimmer dient.
Von Lorena Greppo
BURGSTETTEN. Sich auf ihre Hausaufgaben zu konzentrieren, fällt der siebenjährigen Nishtiman nicht leicht. Dabei macht sie die Aufgaben eigentlich gern, sagt sie. Doch: „Es ist zu laut dafür.“ Ständig springen ihre jüngeren Brüder um sie herum, jemand unterhält sich oder ihre vier Monate alte Schwester Nalshin weint. Auch steht ihr kein Schreibtisch zur Verfügung. Nishtiman hat keine Ausweichmöglichkeit, denn in ihrem derzeitigen Zuhause gibt es neben Küche, Bad und Toilette nur diesen einen Raum. Nachts ist dieser das Schlafzimmer der siebenköpfigen Familie, tagsüber muss er als Wohn-, Spiel und Arbeitszimmer herhalten. Durch den Kleiderschrank ist ein Teil des Raums abgetrennt, dort steht ein Sofa. Der Schrank wackelt etwas, „ich habe Angst, dass er irgendwann umfällt“, sagt Moslem Ibrahim. Damit die Kinder etwas mehr Platz zum Spielen haben, werden drei der Matratzen tagsüber in der Küche aufbewahrt. „Der Geruch vom Essen ist dann drin.“ Seit über einem Jahr sucht der Familienvater nach einem anderen Zuhause, bisher vergeblich.
Die Situation belastet Eltern und Kinder gleichermaßen. Seit sieben Jahren seien sie von einer Flüchtlingsunterkunft zur nächsten unterwegs, berichtet seine Frau Najma Ramadan. „Die Kinder waren noch nie in einem richtigen, eigenen Zuhause“, sagt sie. Die Familie sehnt sich danach, endlich anzukommen. Der älteste Sohn Najerfan war gerade vier Monate alt, als sie und ihr Mann – beide Kurden – aus ihrem Heimatland Syrien flohen. Im Irak kam Nishtiman zur Welt, die Familie zog weiter in die Türkei und dann nach Griechenland, wo der zweite Sohn Navan geboren wurde. Über Belgien kam die Familie 2017 nach Deutschland, nach Schorndorf genauer gesagt. Seitdem kamen noch der heute zweijährige Nishan und Baby Nalshin zur Familie hinzu. Inzwischen ist die Familie in Burgstetten untergekommen.
Die Sprachbarriere erschwert die Wohnungssuche.
Solange sein Aufenthaltsstatus noch ungeklärt war, konnte Moslem Ibrahim nicht arbeiten. In Syrien, erklärt er, war er Gipser und Fliesenleger. Inzwischen haben er und seine Familie eine Aufenthaltserlaubnis, seit etwa zwei Monaten besucht er einen Deutschkurs. Dieser geht voraussichtlich bis September, dann soll er das Sprachniveau B1 erreicht haben. „Dann kann ich anfangen, zu arbeiten“, weiß er. Für ihn wäre es eine Erleichterung. Denn die Sprachbarriere ist auch ein Grund dafür, dass die Wohnungssuche sich so schwierig gestaltet. Die Caritas und Ehrenamtliche des Vereins Kubus greifen der Familie unter die Arme, doch auch sie wissen: Eine Großfamilie mit geringen Sprachkenntnissen – da ist die Wohnungssuche kein Zuckerschlecken. Auch habe er kein Netzwerk von Freunden und Bekannten, die die Fühler für ihn ausstrecken, erzählt Moslem Ibrahim mit Bedauern. In Schorndorf habe er ein paar Freunde gefunden, in Burgstetten sei ihm das noch nicht gelungen. Daran hat auch die Coronapandemie eine Mitschuld.
Seinen Kinder fällt das leichter. In der Schule und im Kindergarten haben sie Kontakte geknüpft, auch sprechen sie inzwischen allesamt recht gut Deutsch. Nur: Aufgrund der beengten Verhältnisse bringen die Kinder ihre Freunde nicht mit nach Hause. Im Sommer war das kein Problem, man habe sich auf dem Spielplatz getroffen, erzählt Najerfan. Bei Regenwetter oder in der Winterkälte wird das schwieriger. Für die Geschwister ist es insofern ein Segen, dass sie einander als Spielkameraden haben. Mit Spielzeugautos beschäftigen sie sich oft, erzählt Najerfan. Nishtiman berichtet, dass sie und ihre Geschwister gern Fangen und Verstecken spielen. Draußen eben. Denn im Haus ist ihnen das kaum möglich. Wo sollen sie sich hier denn verstecken, fragt die Siebenjährige und zeigt um sich. Keine Chance.
Im Haus kommt noch eine weitere Schwierigkeit hinzu: das Badezimmer. Zwar gibt es eine Toilette mit Waschbecken neben der Küche. „Aber wenn ich duschen will, muss ich immer nach oben“, erklärt Najerfan. Das allein wäre nicht weiter schlimm, müsste er nicht jedes Mal klingeln, wenn er das Badezimmer betreten möchte. Denn auf der anderen Etage wohnt eine andere Familie, die ihm öffnen muss.
Auf ihre Wünsche angesprochen, antwortet Najma Ramadan prompt: Am liebsten natürlich ein Haus, damit die Kinder einfach zum Spielen rauskönnen. Aber sie wisse, dass das nicht so leicht ist. Eine größere Wohnung mit mehreren Zimmern, das wäre für sie auch schon okay. Die Familie sei auch nicht an die Gemeinde Burgstetten gebunden, sagt Moslem Ibrahim. Egal wo, Hauptsache die Unterkunft stimmt. Momentan würde das Jobcenter noch die Miete übernehmen, bis der Familienvater anfangen kann, zu arbeiten. Die Wünsche der Kinder klingen ebenfalls sehr bescheiden. Ein eigenes Zimmer hätten die beiden Ältesten gerne. Najerfan sagt aber auch: „Ich teile es auch mit meinem Bruder, kein Problem.“ Was sie machen würden, wenn es denn so weit ist? Nishtiman bleibt dabei: Hausaufgaben. „Richtig schnell rennen, durch das ganze Zimmer!“, ruft ihr älterer Bruder hingegen aus. Das gehe nämlich in der derzeitigen Wohnung nicht. Irgendwas – oder irgendwer – steht immer im Weg.