Die Tridem-Brothers aus Sulzbach und Murrhardt
Andreas (50), Eugen (59) und Roland (61) Claß aus Sulzbach an der Murr und Murrhardt sind erneut beim Radmarathon Paris–Brest–Paris angetreten, um 1200 Kilometer zurückzulegen, und berichten von höllischer Hitze und hoch motivierenden Begegnungen mit Land und Leuten.
![Die Tridem-Brothers aus Sulzbach und Murrhardt Andreas Claß ist als Frontmann für das sichere Durchkommen des „Raumgleiters“, wie die drei ihr Tridem auch nennen, zuständig. Eugen und Roland (von links) sehen sich schwerpunktmäßig als Antriebsdoppelpack. Ihr selbst gebautes Rad hat den Brüdern besonders bei der fünften Teilnahme gute Dienste erwiesen und dabei kein einziges Wehwehchen gehabt. Fotos: privat](/bilder/andreas-class-ist-als-frontmann-fuer-das-sichere-548011.jpg)
Andreas Claß ist als Frontmann für das sichere Durchkommen des „Raumgleiters“, wie die drei ihr Tridem auch nennen, zuständig. Eugen und Roland (von links) sehen sich schwerpunktmäßig als Antriebsdoppelpack. Ihr selbst gebautes Rad hat den Brüdern besonders bei der fünften Teilnahme gute Dienste erwiesen und dabei kein einziges Wehwehchen gehabt. Fotos: privat
Von Christine Schick
Murrhardt/Sulzbach an der Murr. Ein bisschen verrückt muss man schon sein, um beim Fahrradmarathon Paris–Brest–Paris dabei zu sein. Die Franzosen haben dafür ihren ganz eigenen Ausdruck – sie bezeichnen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in diesem Sinne als Randonneurs, was so viel wie verwegene Radwanderer bedeutet.
Aber in dieser Verwegenheit steckt eben auch die Begeisterung für das Rad und den Sport, was sich sowohl auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer als auch auf das unterstützende Publikum entlang der über 1220 Kilometer langen Strecke mit rund 11000 zu erkämpfenden Höhenmetern übertragen lässt. Zeit dafür sind 90 Stunden. Ganz blauäugig dürfen und können die Sportlerinnen und Sportler das nicht angehen – es gibt Vorqualifikationen über 200-, 300-, 400- und 600-Kilometer-Strecken.
Das sind für die Brüder Andreas (Sulzbach an der Murr), Roland und Eugen (Murrhardt) Claß aber wohlbekannte Dinge. Im Vorfeld heißt es sowieso intensiv zu trainieren. „Zusammen kommen wir da auf 10000 bis 12000 Kilometer“, stellt Andreas Claß fest. Besonderheit und Alleinstellungsmerkmal: Sie treten auf ihrem selbst konstruierten Tridem an, dem einzigen unter den vielen Varianten vom Renn- und Liegerad über voll verkleidete Modelle bis hin zum Tandem. Sowohl Gefährt als auch Herangehensweise an das Ultrarennen bringen für das Trio spezifische Herausforderungen mit, auch wenn sie sich mit ihrer mittlerweile fünften Teilnahme (2007, 2011, 2015, 2019 und 2023) als alte, pardon erfahrene Hasen bezeichnen lassen dürften. „Alle drei müssen fit sein, also topfit, und das ist auch ein psychologischer Faktor. Das heißt, wir müssen alle aufeinander achten und danach schauen, dass es dem anderen gut geht“, erklärt Eugen Claß. Vom Ergebnis her hat das ziemlich perfekt funktioniert.
Geänderte Tourstrategie
„Wir waren sogar eine Stunde schneller als beim letzten Mal und haben mehr und längere Pausen gemacht“, stellt der 59-Jährige fest. Die Erfahrung der Vorjahre dürfte nicht geschadet haben, aber die drei haben auch ihre Tourstrategie etwas geändert. Das Ziel, das Event mehr genießen zu können, lässt einen als Außenstehenden etwas schmunzeln angesichts der körperlichen Strapazen.
Neben der fordernden Strecke war vor allem die Hitze mit praller Sonne, Temperaturen über 40 Grad und hohen Ozonwerten so etwas wie der ewige Gegner. „Wir haben eigentlich nie gezweifelt, dass wir ankommen. Oder?“, sagt Eugen Claß so vor sich hin. „Wir haben ein Hitzetraining gemacht, das heißt, nicht so schnell mit einem niedrigen Puls fahren und viel, viel trinken“, erklärt Andreas Claß, mit seinen 50 Jahren der Jüngste im Bunde.
![Die Tridem-Brothers aus Sulzbach und Murrhardt Haferflocken legen die Grundlage für die Energie beim Fahren.](/bilder/haferflocken-legen-die-grundlage-fuer-die-energie-beim-548012.jpg)
Haferflocken legen die Grundlage für die Energie beim Fahren.
Was aber vielleicht noch entscheidender war: Dass die drei sehr viel mehr auf Selbstversorgung gesetzt haben. Statt an den Kontrollpunkten für ein Essen mit teils leeren Kalorien wie Weißbrot anzustehen, haben sie sich ihre eigenen Energiedrinks gemixt und die entscheidende Tagesbasis mit einem Müsli aus Haferflocken und Trockenobst gelegt. Wenn Letzteres alle war, hat auch schon mal ein Glas französische Marmelade aus dem Supermarkt aushelfen müssen. „Die Haferflocken waren der Bringer“, sagt Andreas Claß. Aber auch Dosenwurst, die mehr Verdauungsenergie benötigt, gehörte zum Proviant. Der mehr oder weniger französische kulinarische Höhepunkt bestand in einer fettlastigen Bauernbratwurst in Pfannkuchenteig. Der 61-jährige Roland Class gönnte sich an einer anderen Station mal einen Hähnchenschlegel mit Gulasch. Ebenfalls nicht zu unterschätzen: die strategische Jagd nach einem guten Schlafplatz. Wo lässt sich angesichts von knapp 7000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein erholsames Nickerchen einlegen? Zwar waren entlang der Strecke in Hallen oder Zelten immer mal wieder Matratzenlager eingerichtet, die Frage war aber, wie groß der Andrang sein würde und ob sich ein Platz ergattern ließ. „Bei zwei Warteschlangen haben wir uns an beiden angestellt, haben sozusagen mit allen Mitteln gearbeitet“, sagt Eugen Claß. Schon geschickt, wenn man zu dritt ist.
Beim Übernachtungsquartier darf man nicht wählerisch sein
Funktionierte das in der ersten Nacht noch gut, mussten sich die Brüder in der zweiten mit einem Bankomat zufriedengeben. Ja, richtig gelesen: Die Vorzimmer von Banken, in denen sich am Automat Geld abheben lässt, sind ideal für ein etwas ausgedehnteres Powernapping von einigen Stunden, zumindest wenn sich die Gäste so legen, dass beim Umdrehen nicht ständig die Tür aufgeht und niemand auf die Idee kommt, wirklich Geld abzuheben.
Müdigkeit und Strapazen waren für alle fordernd. Insofern gab es auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sich einfach in den Straßengraben gelegt oder des Nachts am Mittelstreifen orientiert haben. Angenehmer, wenn sich die größeren anfänglichen Pulks allmählich auflösen und sich das verliert, sagt Roland Claß. Bei Dunkelheit heißt es, auf Rehe oder Hasen zu achten, die nicht mit einem – auch angesichts des Gesamtgewichts von 270 Kilogramm – teils sehr schnellen Tridem („unser Raumgleiter“) – auf der Strecke rechnen. Bewährte Schutzmaßnahmen: Zu dritt Wolfsgeheul anstimmen oder die Hupe einsetzen.
Begeisterung über das Tridem und seine Besatzung auf der Strecke
Die Entlohnung für das Ausloten der körperlichen Grenzen sind die Begegnungen mit dem Publikum. „Überall an der Strecke stehen Menschen, Tag und Nacht, halten Wasser bereit. Manche mit dem Camper, manche einfach nur an einem kleinen Tisch mit Sonnenschirm“, erinnert sich Eugen Claß und erzählt von einer älteren Frau, die fleißig Orangen für die Fahrradfahrer geschält hat. Mal wurde das per Foto dokumentiert, mal wurde so langsam gefahren, dass kurzer Handkontakt mit Kindern möglich war. Weil das Tridem seither das einzige beim Rennen war, haben die drei auch Visitenkärtchen gemacht, die sie an Fans und Faszinierte verteilen konnten. „Es wäre schade, überall nur vorbeizuschießen, allerdings kann man auch nicht überall anhalten“, beschreibt Eugen Claß die Schwierigkeit, Balance zu halten. Wenn die Leute über „le triplet“ und seine Besatzung jubeln, mache das schon Gänsehaut. Klar, das Tridem ist einfach etwas ganz Besonderes, quasi das Einhorn unter den Begegnungen, schlussfolgert Eugen Claß.
Trotzdem haben die drei Brüder beschlossen, dass es ihr letzter Paris-Brest-Paris-Marathon war. Die fünfte Teilnahme war ein sehr guter Abschluss, so der Tenor. Die körperlichen und zeitlichen Herausforderungen sind auf Dauer einfach zu überdenken. Andreas Claß hatte mit einem Betonnacken zu kämpfen und ist immer noch dabei, seine Daumen zu überreden, wieder auf der gesamten Fläche Tastsignale zu senden. Als Frontmann kommt ihm in Bezug auf das vorausschauende Fahren eine hohe Verantwortung zu. „Wir sind nur der Motor“, sagt Roland Claß – er sitzt in der Mitte, gefolgt von seinem Bruder Eugen. Antreffen wird man das Einhorn trotzdem noch bei kleineren Ausfahrten. Der Maßstab ist da freilich etwas anders: Die können auch schon mal 200 Kilometer betragen.
Eckdaten Beim Radmarathon Paris–Brest–Paris im August haben 71 Nationen teilgenommen. Die Tridem-Brothers Andreas, Roland und Eugen Claß sind nach 85 Stunden, zwölf Minuten und zwölf Sekunden ins Ziel gekommen. Auf dem Tridem waren insgesamt 170 Jahre unterwegs. Pro Person müssen sie mit etwa 40000 Kalorien und pro Stunde mit einem Liter Wasser rechnen. Das Gepäck inklusive Werkzeug und Regenzeug wiegt um die 15 Kilogramm (von 270 Kilogramm Gesamtgewicht). Wirklich tiefen Schlaf haben sie zwischen sechs und acht Stunden gehabt, schätzen sie. Die drei hatten keine Panne.