Vor 106 Jahren endete der Erste Weltkrieg
Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts
Vor genau 106 Jahren - am 11. November 1918 - endete der Erste Weltkrieg. Europas Staatenlenker hatten vier Jahre zuvor einen Weltenbrand entfacht, der die internationale Politik bis heute bestimmt. Viele der heutigen Konflikte sind eine unmittelbare Folge dieses ersten globalen Krieges.
Von Markus Brauer
Nicht das Jahr 1900 markiert den Beginn der Moderne, sondern das Jahr 1914. Für den britischen Historiker Marek Mazower fängt mit 1914 ein Jahrhundert an, das Europa in einen „dunklen Kontinent“ verwandelte und die Welt seitdem zu einem Schauplatz erbitterter und entmenschlichter kriegerischer und weltanschaulicher Konflikte machte.
Ohne den Großen Krieg 1914 bis 1918, ohne die Unfähigkeit der imperialistischen Mächte, die drohende Katastrophe zu verhindern, ohne das Scheitern der Weimarer Republik und die Revolution in Russland 1917 wären die Namen von Stalin, Mussolini, Hitler und Mao Tse Tung heute nur noch wenigen bekannt.
The Great War
„The Great War“, wie der Erste Weltkrieg im Englischen genannt wird, begann am 28. Juli 1914 mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, der das Attentat von Sarajevo vom 28. Juni 1914 und die dadurch ausgelöste Julikrise vorausgegangen waren.
Am 11. November 1918 um 11 Uhr endete das große Morden und industrialisierte Töten mit dem Waffenstillstand von Compiègne, der gleichbedeutend war mit dem Sieg der Entente und ihrer Alliierten über das Deutsche Kaiserreich und die Mittelmächte. "The great seminal catastrophe of this century" - die Urkatastrope des 20. Jahrhunderts - hat der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan die Jahre von 1914 bis 1918 genannt.
Zerfall der Imperien
Die Gewalt und das Ausmaß dieses dramatischen Ringens sprengten die Dimensionen aller vorherigen Konflikte und traumatisierten Millionen von Menschen.
Nach vier Jahren beispiellosen Mordens gingen die alten Mächte des Kontinents unter – wie das Wilhelminische Kaiserreich, die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie, das russische Zarenreich und das Osmanische Reich. Oder sie wurden nachhaltig geschwächt – wie das britische Empire und das französische Kolonialreich. Am Ende war die alte Ordnung zerstört und Europa für Jahrzehnte erschüttert.
Katalysator für das 20. und 21. Jahrhundert
Die Geschichte dieses Krieges löst immer wieder alte und neue Debatten aus: über die Schuldfrage, die technologische Revolution des Tötens oder die Frage der Unvermeidlichkeit des barbarischen Ringens. All diese Beiträge eint die Erkenntnis, dass der Krieg wie ein Katalysator die späteren historischen Entwicklungen bestimmte – bis auf den heutigen Tag.
„Wenn wir den Ersten Weltkrieg nicht verstehen, wird uns das ganze 20. Jahrhundert ein Rätsel bleiben“, schreibt der Berliner Historiker Herfried Münkler in seinem Buch „Der große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“. Ähnlich formuliert es der deutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler, der vom „Dreißigjährigen Krieg“ spricht. Wie beim Inferno 1618 bis 1648 wurde ein Großteil der europäischen Bevölkerung in den Großkonflikt hineingezogen und mussten unter ihm und seinen Folgen leiden.
Kriegstote und Völkermord
Nach offiziellen Schätzungen sind in den Schlachten des Ersten Weltkriegs zwischen 8,5 und zehn Millionen Soldaten getötet worden, mehr als 20 Millionen wurden verwundet. Nicht minder hoch war der Blutzoll bei Zivilsten. Allein in Russland und Türkei fielen dem Krieg jeweils zwei Millionen Menschen zum Opfer, in Deutschland waren es rund 700 000 und im kleinen Serbien bis zu 600 000.
Auch der Völkermord an den Armeniern geschah während des Ersten Weltkrieges unter Verantwortung der jung-türkischen Regierung des Osmanischen Reichs. Einem der ersten systematischen Genozide des 20. Jahrhunderts fielen bei Massakern und Todesmärschen 1915 und 1916 zwischen 300 000 und 1,5 Millionen Menschen zum Opfer.
Info: Der Erste Weltkrieg und die Brandherde des 20. und 21. Jahrhunderts
Folgen Die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Welt von heute zeigt auch eine Analyse seiner historischen Auswirkungen auf die Brandherde des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie alle tragen das Erbe des ersten globalen Waffengangs in sich:
Deutschland Für Deutschland war der Friedensvertrag von Versailles am 28. Juni 1919 eine gesellschaftspolitische und ökonomische Hypothek, an der die Weimarer Republik scheiterte. Reparationszahlungen, Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise sowie der Revanchismus der nationalen Rechten schufen neuen Hass, der sich im Aufstieg des Faschismus und im Zweiten Weltkrieg entlud.
Russland In Russland erwuchs aus dem Untergang des Zarenreiches ein neuer Gigant auf der Weltbühne. Die bolschewikische Revolution war nur der Beginn eines millionenfachen Leidens des russischen Volkes. Allein der Bürgerkrieg 1918 bis 1920 kostete bis zu 13 Millionen Menschen das Leben. Es folgten die Stalin-Diktatur, der Kampf gegen Hitler-Deutschland und der Kalte Krieg.
Naher Osten Auch der Nahost-Konflikt hat seine Wurzeln im Ersten Weltkrieg. Noch während der Kriegswirren hatten Frankreich und Großbritannien im Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 ihre Einflussgebiete im heutigen Israel, Irak, Iran, Jordanien, Libanon und Syrien abgesteckt. Ohne die willkürlichen Grenzziehungen würde die politische und religiöse Landkarte des Nahen und Mittleren Ostens heute anders aussehen. Als die Briten 1920 das Mandat über Palästina übernahmen, zerschlugen sich sich jüdische und arabische Hoffnungen auf das Gelobte Land – und auf einen dauerhaften Frieden in Nahost. Die vier israelisch-arabischen Kriege von 1948, 1956, 1967 und 1973 sowie die Konflikte im Irak und in Syrien, in Gaza und im Westjordanland sind ohne die Vorgeschichte des Ersten Krieges nicht denkbar.
Osmanisches Reich Aus den Trümmern des Osmanischen Reiches schuf General Mustafa Kemal die säkulare türkische Republik – wofür er den Ehrennamen Atatürk („Vater der Türken“) erhielt. Die von ihm eingeleitete laizistische Modernisierung barg indes die Gefahr innenpolitischer Spannungen und einer Reislamisierung.
Osteuropa und Balkan Für Polen, Litauer, Esten, Letten, Tschechen und Slowaken sowie die Balkanvölker markiert der Krieg den Beginn ihrer nationalen Wiedergeburt. Doch das machtpolitische Vakuum, das der Zusammenbruch Österreich-Ungarns und des Zarenreiches hinterließ, führte zu neuen Konflikten. Die Kriege in Ex-Jugoslawien gegen Ende des 20. Jahrhunderts sind ohne dieses fragile politisch-ethnische Erbe nicht denkbar. „Der postimperiale Balkan macht den Europäern bis heute zu schaffen, und eine Änderung ist nicht abzusehen“, schreibt Münkler. „Dass im Umgang mit diesem Raum äußerste Vorsicht geboten ist, ist eine der politischen Lehren des Ersten Weltkrieges.“
USA Der „Kreuzzug der Demokraten“, wie der „Spiegel“ den Kriegseintritt der USA einmal titulierte, war der Beginn der Geburt einer neuen Supermacht. Die anfängliche Zurückhaltung der US-Regierung von Woodrow Wilson (1913 bis 1921) vor allem einer starken isolationistischen Haltung in der amerikanischen Bevölkerung geschuldet. Erst nach langem Zögern schickten die USA im April 1917 ihre Truppen auf die europäischen Schlachtfelder. Ihre rund 2,1 Millionen Soldaten brachten die Wende. Und dennoch scheiterte Präsident Wilsons Traum vom gerechten Frieden und einer neuen Weltordnung. Ohne dieses Engagement hätte der Kriegsverlauf ein anderer sein können. Ganz zu schweigen von dem Sieg der US-Demokratie über das faschistische Deutschland und Italien sowie Japan.
Japan und China Dem Aufstieg des japanischen Kaiserreiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgten Anfang und Ende seines fernöstllichen Imperiums. Japans Kapitulation am 2. September 1945 beendete den Zweiten Weltkrieges und schuf zugleich die Basis für den Aufstieg einer neuen fernöstlichen – Chinas. Die Erben Maos sind inzwischen zum einzigen gleichwertigen Konkurrenten der nach dem Ende des Kalten Krieges einzig verbliebenen Supermacht USA avanciert.