Die verlassene Generation
Europas Jugend Viele Rumänen wandern aus – die Schwächsten bleiben zurück
Weil ihre Mütter und Väter im Westen Geld verdienen, wachsen in Rumänien bis zu 350 000 Kinder ohne Eltern auf. Die Folgen der frühen Trennung für die junge Generation sind kaum absehbar.
Bukarest Es ist still im Klassenzimmer. So still, dass die 20 Kinder das leiseste Knarzen eines Schuhs hören können. So still, wie es sein muss, wenn man sich anschleicht. Wird einer ertappt, toben die Schüler so laut, dass man glaubt, die kleinen Papierschmetterlinge an der Wand zittern zu sehen. Manchmal lösen sich aus dem Geschrei die Namen der Fußballidole heraus: „Messi!“, „Ronaldo!“.
Florin hat seinen Kopf auf die Schulbank gelegt. Seine leicht mandelförmigen Augen verfolgen das Geschehen unter der tief ins Gesicht gezogenen Baseballkappe. Manchmal bleibt sein Blick sekundenlang starr. Florin und seine Spielkameraden verbringen ihre freien Nachmittage in der Schule, einem weiß-blauen Funktionsbau in Bukarests Sektor 5, wo wenig vom Pomp der nahen Prachtstraßen im Zentrum zu sehen ist. Florin ist hier, weil er ohne Eltern aufwächst.
Seinen Vater kennt Florin nicht, die Mutter ging weg, als er vier Jahre alt war. Den Großteil seines erst zehnjährigen Lebens hat er also ohne sie verbracht. Nur zweimal hat sie ihn besucht, seit sie nach Großbritannien ging, um dort Geld zu verdienen. Er lebt bei seiner Großmutter, die es kaum schafft, neben der Pflege ihres Mannes auch noch für den Jungen zu sorgen. In der Schule läuft es nicht, die Noten sind schlecht. Hier, in der Nachmittagsbetreuung der Hilfsorganisation Save the Children, kümmert man sich um ihn. Wenige Kinder haben so viel Glück. Doch viele Tausend teilen Florins Schicksal.
Mehr als drei Millionen Menschen haben Rumänien seit 2007 verlassen, als das Land in das Programm zur Personenfreizügigkeit der EU aufgenommen wurde. Viele Rumänen gingen ins Ausland, fanden dort Arbeit und schicken seither rund vier Milliarden Euro pro Jahr ins Land. Mit 3,8 Prozent ist die Arbeitslosigkeit niedrig. Das sind die Zahlen. Man könnte diese Entwicklung aber auch als Ausbluten bezeichnen. Es gibt kaum noch Fachkräfte und Ärzte in Rumänien– und vor allem: zu wenige Eltern. 350 000 Kinder müssen auf Vater oder Mutter verzichten, die zum Arbeiten im Ausland sind, schätzt Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Das sind so viele wie in keinem anderen EU-Land. Auf etwa 100 000 Kinder kommen die rumänischen Behörden. Die Kinder werden Erdbeerwaisen genannt, weil viele ihrer Eltern im europäischen Ausland Erdbeeren ernten. Mancher spricht auch von Eurowaisen.
Was in Deutschland und anderen EU-Ländern als Arbeitsmigration bezeichnet wird, bedeutet in Rumänien, dass ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung verloren geht. Und jene, die zurückbleiben, sind auf Unterstützung angewiesen. Die EU-Kommission kennt das Problem seit 2010, derzeit läuft eine Machbarkeitsstudie zur „Kindergarantie“, die europäischen Kindern einen ökonomischen Mindeststandard garantieren soll. Auf Anfrage sagt eine Sprecherin, dass die Heimatländer zuständig sind.
Unterdessen dampft es in Florins Klassenzimmer aus einer großen Styropor-Box. Leonard Andreescu gibt das Mittagessen für zwei zu spät gekommene Schüler aus. Das Klassenzimmer in Bukarest ist eines der 17 Zentren von Save the Children in Rumänien. 700 Kinder betreut die Hilfsorganisation im ganzen Land. Andreescu und eine weitere Betreuerin organisieren gemeinsame Spiele. Und sie hören zu, tauschen sich mit den Kindern aus wie vertraute Freunde. Ein Forschungsprojekt von Safe the Children habe ergeben, dass emotionale Nähe für die Kinder am wichtigsten sei, sagt Andreescu.
Diese Nähe aber erfährt nur ein kleiner Teil der Betroffenen. Ein Tropfen in einem Ozean, beklagt der Psychologe Marius Rusu. Er weiß, dass Kinder sich oft selbst die Schuld dafür geben, dass die Eltern weggegangen sind. Manche fühlten sich zu hässlich oder einfach nicht gut genug. Vor allem Kinder bis zum siebten Lebensjahr könnten nicht verstehen, warum ihre Eltern weg müssen, sagt Rusu. „Das kann lebenslange Konsequenzen haben.“ Niedriges Selbstwertgefühl, Angst und Depressionen tauchen bei den Eurowaisen laut Rusu doppelt so häufig auf wie beim Rest der Bevölkerung.
„Auch ich habe das alles erlebt – und ein bisschen mehr“, sagt Liana, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will. Die Journalistin wurde von ihrer Mutter zurückgelassen, als sie sechs Jahre alt war. Die Trennung habe sich für sie angefühlt, als würde man sie aussetzen. Bis zum Alter von zwölf Jahren war sie einfach ein melancholisches Kind. Dann schlug die Melancholie in Depression um. Selbstverletzungen, Suizidversuche, Alkohol, Videospielsucht und Schulverweigerung seien dazugekommen, sagt die 25-Jährige, die mit ihren kurzen blondierten Haaren, Brille und buntem 80er-Jahre-Anorak auch gut in die Hipsterecken Berlins passen würde.
Und dann waren da noch die Bindungsprobleme. „Ich habe geglaubt, dass jeder, den ich traf, ein guter Mensch ist. Ich habe ihnen alles gegeben, was ich hatte, und hoffte, dass sie mich nicht verlassen würden. Nur um dann doch extrem zu leiden, wenn sie mich verließen“, sagt Liana, deren feste Stimme nichts mehr vom damaligen Gefühlschaos verrät. Auch diese Bindungsprobleme – Menschen zu vertrauen, die eigentlich fremd sind, und gleichzeitig keine echte Nähe zulassen zu können – sind laut Experten ein häufiges Problem der Eurowaisen.
Bindungsprobleme können von Generation zu Generation weitergegeben werden, sagt der Psychologe Rusu. Wachsen Kinder damit auf, bestehe für sie im Erwachsenenleben ein großes Risiko, selbst wieder dysfunktionale Familien zu gründen. Wie sehr Kinder die Trennung von ihren Eltern spüren, hängt aber auch von anderen Faktoren ab.
„Ich kenne Fälle, in denen die Eltern gesagt haben, sie gehen einkaufen, und erst Monate später zurückkamen“, sagt Rusu. Die Art der Trennung, Form und Häufigkeit des Kontakts zu den Eltern und die emotionale Bindung zu den Erziehungsberechtigten beeinflussen wesentlich, wie die Kinder mit der psychischen Belastung umgehen. Liana, die Journalistin, hatte zwar oft Briefe an ihre Mutter geschrieben, später auch via Skype mit ihr gesprochen. Doch was änderte das? Sie wohnte auf dem Land bei anderen Verwandten, zeitweilig sogar mit ihrer vier Jahre älteren Schwester alleine im Elternhaus. Dass sie heute eine emanzipierte und selbstbewusste Frau ist, führt sie auch auf diesen frühen Zwang zur Selbstständigkeit zurück. Wünschen würde sie ein solches Schicksal aber keinem Kind. Und das alles für ein wenig mehr Wohlstand? Mehr Armut hätte ihr nichts ausgemacht, wenn dafür die Familie zusammengeblieben wäre, sagt Liana.
Auch Florin wird am Ende des Spielnachmittages in der Schule wieder in eine Familie zurückkehren, in der die Eltern fehlen.