Olympische Spiele 1900

Die versteckten Spiele von Paris

Am Freitag (26. Juli) beginnen in Paris die Olympischen Spiele. Die fanden auch schon 1900 in Paris statt. Allerdings unter höchst kuriosen Umständen.

Zuschauer im Bois de Boulogne.

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Zuschauer im Bois de Boulogne.

Von Christoph Weymann

Das Vélodrome Jacques-Anquetil im Bois de Vincennes wirkt heute verwunschen. Nur ein paar ältere Rennradfahrer drehen ihre Runden auf der Bahn. Das Stadion ist eine Legende des Radsports – und gehört zu den wenigen Orten in Paris, die an ein Unikum in der Geschichte der Olympischen Spiele erinnern – an die Spiele von 1900, die gar nicht richtig stattgefunden haben, wie zuletzt der Historiker Pascal Ory befand.

Als der Sportfunktionär Pierre de Coubertin am 23. Juni 1894 auf einem Kongress in Paris die Neugründung Olympischer Spiele als Verbindung moderner „englischer“ Sportarten mit dem antiken Mythos durchsetzte, hatte er eine schwere Niederlage hinter sich.

Weltausstellung oder Olympia?

Im Januar hatte Coubertin versucht, den Leiter der kommenden Weltausstellung, Alfred Picard, davon zu überzeugen, die neuen Spiele als Teil der Expo 1900 zu veranstalten. Doch Picard plante selbst „Internationale Wettbewerbe für Leibesübungen und Sport“ und war nicht bereit, einem Konkurrenzprojekt, das er als „Anachronismus“ ansah, einen Sonderstatus einzuräumen.

Daran änderte sich auch nichts, als sich 1896 in Athen die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit als Erfolg erwiesen. Coubertin musste akzeptieren, dass die von ihm für 1900 geplanten Olympischen Spiele nur als unauffälliger Teil der Weltausstellung möglich waren. Sie sollten später als zweite Spiele der Neuzeit gezählt, aber nicht so genannt werden.

Die Wettbewerbe fanden oft weit außerhalb und vor wenigen Zuschauern statt. Versteckt in einem Mischmaschprogramm der Weltausstellung, das sich über mehr als fünf Monate hinzog. Und das unter anderem Brieftaubenflüge, Drachensteigen, Ballonwettfahrten, Auto- und Motorbootrennen, Boule, Angeln und Kanonenschießen bot. Die Organisation war nicht perfekt. So mussten die Hoch- und Weitspringer erst einmal eine Grube ausheben, und bei den Regatten gelang es mehreren ausgeschiedenen oder disqualifizierten Ruderern, ihre weitere Teilnahme durchzusetzen.

Dennoch wurde in Paris Sportgeschichte geschrieben: Erstmals durften Frauen an den Wettbewerben teilnehmen, wenn es auch nur 22 waren – unter insgesamt 997 Athleten. Aber selbst das widersprach den patriarchalischen Idealen Coubertins, der sich auffallend zurückzog und nur einmal in Erscheinung trat – als Kampfrichter bei der Leichtathletik.

Die dazu zählenden Disziplinen wurden von Amerikanern dominiert. Der 24-jährige Student Alvin Kraenzlein, der mit einer neuen Technik im Hürdenlauf glänzte, schaffte vier Siege und wurde zum Star der Meisterschaften. Mit dem Erfolg des deutschstämmigen Kraenzlein trösteten sich auch die sonst wenig erfolgreichen deutschen Olympioniken.

Für Frauen gab es offiziell Wettbewerbe im Tennis, wo auch gemischte Doppel gespielt wurden, und beim Golf. Für Krocket hatten sich mehrere Damen angemeldet, dann aber nicht teilgenommen.

Als Begleitung akzeptiert wurden Frauen unter anderem in den Segelwettbewerben. Auf dem Boot des Deutschschweizers Graf Hermann de Pourtalès fuhr unter anderem seine Frau mit. Die 32-jährige gebürtige Amerikanerin Hélène de Pourtalès war eine erfahrene Seglerin.

Beim ersten Rennen für Boote zwischen ein und zwei Tonnen, das auf der Seine bei Meulan, 40 Kilometer westlich von Paris, stattfand, schaffte die Crew am 22. Mai einen ersten Platz und am nächsten Tag einen zweiten. Damit gilt die sportliche Genferin heute offiziell als erste Frau, die an einem Gruppen-Olympiasieg beteiligt war. Statt Medaillen wurden damals übrigens vor allem Skulpturen vergeben.

Golfspielerinnen auf hohen Absätzen

Margaret Abbott, eine der besten US-Golferinnen, war nach Paris gekommen, um die Werke der Bildhauer Degas und Rodin zu studieren, meldete sich aber wie viele Ausländer vor Ort spontan zu den Wettbewerben an. Noch Jahre später amüsierte sie sich über den merkwürdigen Stil der französischen Teilnehmerinnen, die versuchten, das Spiel in festgezurrten Röcken und auf hohen Absätzen zu meistern.

Wie viele andere erfolgreiche Teilnehmer in Paris soll Abbott zeitlebens nicht gewusst haben, dass sie mit ihrem ersten Platz einen Olympiasieg errungen hatte.

Bei einem Rugbyspiel am 14. Oktober trat erstmals ein französisches Team gegen ein deutsches an, und zwar gegen die – von zwei Stuttgarter Spielern unterstützte – Mannschaft des SC Frankfurt 1880. Das Spiel im Radstadion von Vincennes verlief dramatisch. Der Boden war vom Regen aufgeweicht. Statt eines Schiedsrichters der englischen Rugby-Union wurde den Deutschen ein Referee des französischen Verbands vorgeschlagen, „den man aus Gründen der Höflichkeit nicht glaubte zurückweisen zu dürfen“, wie es später im Spielbericht von „Sport im Bild“ hieß.

Ein höchst brisantes Rugbyspiel

Nach der ersten Halbzeit führten die Deutschen. Danach habe die „sonderbare, Frankfurt durchweg benachteiligende Handhabung des Schiedsrichteramtes“ zur Niederlage der deutschen Mannschaft geführt. Dies, hieß es im Spielbericht, „vermochte nicht den frohen und fidelen Sinn der Frankfurter zu trüben“.

Am Abend trafen sich die Mannschaften bei einem Bankett wieder. Dabei bahnten sich freundschaftliche Kontakte an – keine Selbstverständlichkeit angesichts der vorangegangenen Bedenken auf beiden Seiten. So hatten deutsche Offiziere vom preußischen Kriegsministerium nicht die Erlaubnis erhalten, sich an den Ballonwettfahrten zu beteiligen.

Und französische Zeitungen hatten vor dem Rugbyspiel geklagt, wie die französischen Spieler „es vermöchten, sich mit den Söhnen der Nation in friedlichem Wettkampf zu messen, die 1870 ihre Väter erschlagen“ hatte. Auch wenn es noch Jahre dauern sollte, bis die Olympischen Spiele etabliert waren: Hier blitzte schon auf, was sie im besten Fall bewirken können.

Etwas länger dauerte es auch bei der Frage, welche der insgesamt 477 Weltausstellungswettbewerbe in 34 Disziplinen mit mehr als 58 000 Teilnehmern wohl als olympisch gewertet werden können. Darüber wurde unter Sporthistorikern noch diskutiert, als das Jahrhundert wieder zu Ende war.

Inzwischen hat das Internationale Olympische Komitee 95 Wettbewerbe mit 975 Athleten und 22 Athletinnen anerkannt.

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Erstellt:
22. Juli 2024, 12:10 Uhr
Aktualisiert:
22. Juli 2024, 13:47 Uhr

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