Schach-WM in Singapur
Ding Liren – die Auferstehung des Weltmeisters
Der amtierende Schachweltmeister Ding Liren hat auf dem Schachbrett einen Tsunami entfacht und ist damit zurück im Spiel. Kann er seinen Titel gegen Dommaraju Gukesh doch noch verteidigen?
Von Norbert Wallet
Der chinesische Schachweltmeister Ding Liren kann ein heiterer Mensch sein. Meistens ist er es nicht. Er war vor dem WM-Duell in Singapur durch eine Leidenszeit gegangen, die ihm nicht nur über 300 Tage ohne Sieg einbrachte, sondern auch sehr ernsthafte Probleme mit seiner mentalen Gesundheit. Am Montag dieser Woche zeigte er sein Lächeln. Gerade hatte er seinen indischen Kontrahenten Dommaraju Gukesh in einer makellosen Partie besiegt und den WM-Kampf zwei Partien vor Schluss wieder zum Gleichstand gebracht.
Vor dem Hotel wartete sein Stab an Betreuern, allen voran sein ungarischer Freund und Sekundant Richard Rapport. Der hatte das Ergebnis der zwölften Partie vorausgesehen. Ding Liren verriet nach dem Spiel, dass er als eine seiner besten Partien „seit sehr langer Zeit“ bezeichnete, dass ihm der ungarische Helfer am Vorabend der Begegnung eine Datei mit einigen Eröffnungsanalysen geschickt hatte. Titel der Ideensammlung: „Strike back“, also ungefähr „Gegenschlag“. Ermutigung kam auch von familiärer Seite. Auch das verriet Ding Liren. Seine Mutter habe ihn daran erinnert, dass er auch bei seinem Titelgewinn im vergangenen Jahr in der zwölften Partie gewonnen und den Kampf wieder ausgeglichen hatte.
Wichtiger Sieg
Die Bedeutung des Sieges zum 6:6-Ausgleich vom Montag (für den Titel sind 7,5 Punkte nötig) kann gar nicht überschätzt werden. Als der 18-jährige indische Herausforderer die elfte Partie nach einer Strecke von sieben Unentschieden in Folge gewann, schien die WM eigentlich schon gelaufen. Ganz bestimmt in den Augen der vielen indischen Journalisten, die ihren Mann schon als kommenden Weltmeister feierten. Und Ding Liren hatte nicht den Eindruck hinterlassen, noch einmal zurückzukommen. Er hatte den Wettkampf wesentlich ausgeglichener gestaltet, als viele ihm das nach seiner langen Schwächephase zugetraut hatten. Das schon. Aber zu oft schien er im Laufe des Duells, dem großen Konflikt aus dem Weg zu gehen, zu schnell gab er sich mit Remis zufrieden, auch wenn noch etwas Leben in der Stellung verblieben war.
Gukesh dagegen lotete immer wieder Wege aus, noch aus den trockensten Positionen Siegchancen herauszupressen – unter Inkaufnahme erheblicher Gefahren. Und in der elften Partie brach Ding Liren nach unruhigem Verlauf schließlich in Zeitnot zusammen und patzte schrecklich. Umso erstaunlicher der Verlauf der zwölften Partie: Gukesh wählte eine anspruchslose Verteidigung, die Ding Liren einen klaren Plan an die Hand gab. Und diesmal durfte der Chinese nicht mehr friedfertig ins Remis ausweichen. Diesmal musste er kämpfen. Und das tat er.
Spiel auf ein Tor
Es war ein Spiel auf ein Tor. Der Inder wurde überrollt von dem Angriff, der sich mit der Gewalt eines Tsunamis geradewegs durch die Mitte des Brettes auf seinen König zubewegte. Gukesh ging letztlich ohne Chance unter. Ding Liren, der schüchterne, oft unsicher und ohne Selbstvertrauen wirkende Champ, hatte einen Sturm entfesselt, wie er in WM-Partien so nicht oft zu sehen ist.
Magnus Carlssen, langjähriger Weltmeister und noch immer klare Nummer eins der Weltrangliste, sagte, ihm kam dieser erstaunliche Auftritt vor wie eine Partie aus einem WM-Kampf zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, wo es mal vorkommen konnte, dass der Titelverteidiger einen weniger starken Herausforderer einfach vom Brett fegte.
Und jetzt? Ist wieder jeder ratlos. Weil man einfach nicht schlau wird aus Ding Liren. „Er ist so ein Geheimnis für mich“, sagt der niederländische Großmeister Anish Giri über ihn. „Er schien so zerbrochen, so völlig am Boden nach seiner Niederlage. Und dann zeigt er dieses absolut unglaubliche Spiel – vom ersten Zug bis zum Schluss.“