Gefährliches Fentanyl
Droht auch in Deutschland eine Opioid-Krise?
Die Droge Fentanyl tötet in den USA tausende Menschen. In Deutschland ist sie bislang weniger verbreitet. Doch das könnte sich schnell ändern. Über eine besorgniserregende Entwicklung.
Von Mia Bucher (dpa)/Markus Brauer
In der offenen Drogenszene ist Heroin seit Jahrzehnten ein verbreitetes Rauschmittel. Die meisten Drogentoten in Deutschland gehen noch immer darauf zurück. Doch neue, potenziell tödlichere Mittel drängen auf den Markt – Fentanyl zum Beispiel.
Die Substanz mache nicht nur extrem süchtig, erklärt der Psychiater Norbert Scherbaum, es wirke auch etwa 50-mal stärker als Heroin. „Deswegen sterben auch überproportional viele Menschen daran.“ Bereits zwei Milligramm gelten als potenziell tödliche Dosis.
2227 Menschen starben hierzulande im vergangenen Jahr am Konsum illegaler Substanzen, bei 712 Todesfällen war Heroin im Spiel, dicht gefolgt von Kokain (610) und Crack (507). Oft wurde ein Mischkonsum festgestellt.
Zehntausende Fentanyl-Tote in den USA
In den USA hat Fentanyl bereits zu einem enormen Drogenproblem mit Zehntausenden Toten geführt. Nach Angaben des nationalen US-Instituts, das Drogenmissbrauch erforscht, starben durch eine Überdosis synthetischer Opioide – vor allem Fentanyl – allein im Jahr 2021 mehr als 70 000 Menschen.
I have been photographing the streets of San Francisco for over 30 years. Mid-Market has NEVER looked worse. There are people openly smoking fentanyl, folded over, or passed out on the street every single day. The Whole Foods closed after rampant theft and someone overdosed… https://t.co/W7nJVwzMZ2pic.twitter.com/G2ioZv0pai — Thomas Hawk (@thomashawk) August 20, 2024
Fentanyl gehört zu einer Gruppe recht neuer Drogen: synthetische Opioide wie auch Tilidin, Tramadol und Oxycodon, die als zugelassene Medikamente eigentlich zur Behandlung von starken Schmerzen eingesetzt werden. Fentanyl wirkt ähnlich wie Morphin, wird aber komplett synthetisch hergestellt. In der Medizin wird es etwa bei Tumorerkrankungen verwendet.
Opiate und Opioide
- Opiate sind Substanzen, die direkt aus Opium, dem getrockneten Milchsaft vom Schlafmohn, gewonnen werden. Zur Opiate-Gruppe gehören zum Beispiel Morphin und Codein.
- Der Begriff Opioide bezeichnet demgegenüber alle Substanzen, die an Opioid-Rezeptoren – also Zellen oder Zellbestandteile, die auf bestimmte Reize reagieren und Signale weiterleiten – binden und wie Morphin wirken. Dazu gehören sowohl natürliche als auch künstlich hergestellte (synthetische) Substanzen.
- Die Endorphine – körpereigene Substanzen, die von der Hirnanhangsdrüse im Gehirn ausschüttet werden – zählen als körpereigene Opioide ebenfalls zu dieser Gruppe.
Schmerzmittel wird auch in Deutschland häufig verschrieben
Fentanyl kann geschluckt, gespritzt, geschnupft, geraucht oder als Pflaster angewandt werden. In Deutschland scheine die Droge bislang bei weitem nicht die Rolle wie in den USA zu spielen, sagt Scherbaum, der Vorsitzender der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) ist. Die Opioidkrise in den USA sei vor allem durch eine sehr großzügige und sorglose Verschreibung von starken Schmerzmitteln entstanden.
Auch in Deutschland würden solche Medikamente durchaus in einem hohen Maße und vor allem häufiger als noch vor 10 oder 20 Jahren verschrieben. „Aber das hat nicht das Niveau der USA.“ Auch jahrelang wiederholte Erhebungen bei Opiatabhängigen auf Entzugsstationen in Nordrhein-Westfalen hätten gezeigt, dass Fentanyl hierzulande bislang nur eine geringe Rolle spiele, betont Scherbaum.
Fentanyl spielt in Berliner Drogenszene noch keine große Rolle
Laut Rüdiger Schmolke vom Notdienst für Suchtmittelgefährdete und -abhängige Berlin spielt Fentanyl in der offenen Drogenszene der Hauptstadt noch keine große Rolle. „Wir wissen, dass es in Tests schon gefunden wurde. Es ist aber nicht das Mittel oder der Stoff, den unsere Klientinnen haben wollen.“
Heroin sei aus Sicht der Konsumenten sicherer und garantiere einen längeren Rausch, erläutert Schmolke, der Referent für Prävention und Beratung ist. Außerdem wüssten viele, dass das Risiko einer Überdosierung bei Fentanyl sehr viel höher sei. „Deshalb reagieren unsere Klienten eher skeptisch oder ablehnend auf Fentanyl.“
Opioidkrise könnte auch Deutschland drohen
Scherbaum glaubt, dass die Verbreitung der Droge zunehmen und auch hierzulande zu einer Krise führen könnte. „In die Zukunft können wir natürlich alle nicht gucken, aber das Risiko ist sicherlich gegeben“, schätzt der Suchtexperte.
Das hat verschiedene Gründe – einer liegt in Afghanistan. Das Land gilt als wichtigster Standort für den Heroin-Rohstoff Opium, der aus Schlafmohn gewonnen wird. Weil die Taliban den Anbau von Mohn 2022 verboten haben, ist die weltweite Opium-Produktion laut dem UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) um 74 Prozent eingebrochen.
Scherbaum zufolge hat das keine unmittelbaren Folgen, da die Lager wahrscheinlich noch gut gefüllt seien. Außerdem sei möglich, dass andere Länder nun mehr produzierten. Früher oder später sei aber mit einer Verknappung zu rechnen.
Produktion von Fentanyl billiger als bei Heroin
Ein weiterer Grund sei, dass sich der internationale Drogenmarkt in Zukunft stark verändern könnte, erklärt der Psychiater. „Die Drogenkartelle merken, dass synthetische Produkte für sie viel gewinnbringender und viel weniger risikoreich in Hinblick auf die Strafverfolgung sind.“ Die Herstellung von Fentanyl sei viel billiger als die von Heroin, da es im Labor hergestellt werden könne.
Schon jetzt bestehe das Risiko, dass Menschen Heroin kauften, dem Fentanyl beigemischt sei, Konsumenten aber nichts davon wüssten. Die Folge sei, dass sie sich bei der Dosis völlig verschätzten und sich unwissentlich eine Überdosis setzten, sagt Scherbaum.
Das Risiko, an bedrohlichen Herzrhythmusstörungen oder Atemstillstand zu sterben, sei bei synthetischen Drogen viel höher als bei Heroin, erklärt der Suchtexperte. Durch eine zunehmende Verbreitung von synthetischen Opioiden würde die Zahl der Drogentoten demnach steigen.
Drogenhilfe bereitet sich vor
Auch Schmolke ist überzeugt, dass eine verminderte Verfügbarkeit von Heroin für Abhängige „eine absehbare Katastrophe“ wäre. Die Drogenhilfe bereite sich intensiv auf eine zunehmende Verbreitung von Fentanyl vor, auch wenn keinen Anlass für eine „Fentanyl-Panik“ gebe. Wichtig seien Aufklärung und ein gutes und größeres Therapie- und Substitutionsangebot für Abhängige. In Berlin etwa gibt es laut dem Gesundheitswissenschaftler vier Drogenkonsumräume und drei Konsummobile. Das sei zu wenig.
InfO. Opioid-Analgetika
Opioide Opioide sind verschreibungspflichtige Schmerzmittel. Sie wirken vor allem im zentralen Nervensystem (ZNS) – genauer an bestimmten Zellen im Gehirn und im Rückenmark, die Opioid-Rezeptoren besitzen. Dort unterdrücken die Medikamente Schmerzsignale. Opioide können stärkere Schmerzen lindern und wirken beruhigend. Opioid-Analgetika werden in stark wirksame Mittel und schwach wirksame Opioide unterschieden.
Schwache Opioide Tilidin Tramadol Codein Dihydrocodein
Starke Opioide Diese Mittel wirken stärker schmerzstillend als Morphin. Sie verursachen jedoch auch oft schwere Nebenwirkungen. Sie werden bei starken Schmerzen nach Operationen, Unfällen oder bei Tumorerkrankungen eingesetzt. Pethidin Piritramid Tapentadol Morphin Oxycodon Levomethadon Hydromorphon