Justizreform

Droht Israel erneut die Spaltung und was heißt das für den Krieg?

Vor dem 7. Oktober war die Justizreform das bestimmende Thema in Israel. Nun kippte das Oberste Gericht ein Kernelement. Fast zeitgleich flammen die Anti-Netanjahu-Proteste wieder auf.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu steht in der Kritik.

© dpa/Menahem Kahana

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu steht in der Kritik.

Von Mareike Enghusen

Bis zum Terrorangriff der Hamas war sie das bestimmende Thema in Israel: die geplante Justizreform der Regierung, die Hunderttausende auf die Straße trieb. Nun kommt das Thema mit Wucht zurück: Israels Oberster Gerichtshof erklärte am Montagabend das erste verabschiedete Element der Reform für ungültig. Es ist eine schwerwiegende, für viele überraschende Entscheidung – die die israelische Notfallregierung mitten im Krieg in eine Krise stürzen könnte.

Das Gesetz, das die rechts-religiöse Regierung unter dem Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu im Juli durchs Parlament gebracht hatte, sollte die sogenannte Angemessenheitsdoktrin abschaffen. Diese besagt, dass Minister bei Entscheidungen Angemessenheit bewahren, etwa das öffentliche Interesse berücksichtigen müssen. Verfechter der Doktrin halten es für ein wichtiges demokratisches Korrektiv. Acht von 15 Richtern sehen das ähnlich: Die Gesetzesänderung hätte „den Kerneigenschaften des Staates Israel als demokratischem Staat schweren und beispiellosen Schaden zugefügt“, hieß es in der Begründung.

Wie stabil ist die Notfallregierung?

In der Notfallregierung könnte das Urteil zu Konflikten führen. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte in der Vergangenheit mehrfach eine Antwort auf die Frage verweigert, ob er das Urteil des Obersten Gerichtshofes akzeptieren würde, sofern dieses das Gesetz für ungültig erkläre. Bis zum Dienstagnachmittag äußerte er sich nicht zu dem Urteil, mehrere von Netanjahus Ministern jedoch kritisierten es scharf; der rechtsextreme Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, nannte das Urteil gar „illegitim“.

Manche Beobachter fürchten nun um die Stabilität der Notfallregierung. Benny Gantz, früherer Armeechef und Vorsitzender der Mitte-Rechts-Partei Nationale Einheit, war Netanjahus Koalition nach dem Terrorangriff der Hamas Anfang Oktober beigetreten, um das Kriegsgeschehen mitzulenken. Sollten sich Teile der Regierung gegen das Oberste Gericht stellen, könnte Gantz sich gezwungen sehen, die Koalition zu verlassen – und die weitere Kriegsplanung einer Regierung aus rechten, rechtsextremen und ultrareligiösen Parteien überlassen.

Doch die Folgen eines solchen Szenarios könnten noch weiter reichen. „Wenn die Regierung die Entscheidung des Gerichts nicht akzeptiert, wäre das das Ende der Demokratie“, sagte der Politikwissenschaftler Gideon Rahat von der Hebräischen Universität dieser Zeitung. „Ich glaube allerdings nicht, dass das sehr wahrscheinlich ist, denn wir befinden uns im Krieg.“

Armee in der Krise

Doch das Urteil kommt auch mit Blick auf die Gesellschaft zu einem brisanten Zeitpunkt. Am vergangenen Samstag protestierten zum ersten Mal seit Anfang Oktober wieder Tausende in Tel Aviv sowie der Küstenstadt Caesarea, in der das Privathaus der Netanjahus steht, gegen den Regierungschef. Viele machen ihn verantwortlich für die schwache Reaktion der Armee auf den Terrorangriff der Hamas. Denn der Versuch seiner Regierung, die Justiz zu schwächen, hatte in den Monaten vor dem Terrorangriff die Armee in eine zuvor ungekannte Krise gestürzt: Tausende Reservisten, darunter zahlreiche Angehörige der Luftwaffe sowie wichtiger Spezialeinheiten, hatten mit einem Boykott ihres Reservedienstes gedroht für den Fall, dass die Regierung ihr Reformprojekt vorantriebe. „Man kann annehmen, dass die Spaltung des Volkes mit der Entscheidung der Hamas zusammenhängt, am 7. Oktober anzugreifen“, sagte Armeechef Herzi Halevi vor wenigen Tagen.

Dass Netanjahu – im Gegensatz zu den Chefs von Armee und Geheimdienst – bislang keinerlei persönliche Verantwortung eingeräumt hat, erbost viele Menschen nur noch mehr. Doch zumindest das wichtigste Projekt seiner Regierung vor dem Krieg, der Umbau der Justiz, dürfte sich spätestens mit diesem Urteil erledigt haben. „Heute ist ein Kapitel in dem Kampf um den Schutz der Demokratie zu Ende gegangen“, verkündete die „Kaplan-Kraft“, jene Gruppe, die die Proteste gegen die Reform koordiniert hatte, am Abend des Urteils. „Ein Sieg für die Bürger Israels.“

Zum Artikel

Erstellt:
2. Januar 2024, 15:28 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen