Tatort-Kritiken

„Dunkeldeutschland liegt auf der Schwäbischen Alb“

Vom Tatort „Lass sie gehen“ fühlen sich viele Älbler als Hinterwäldler verunglimpft. Überregionale Kritiker beschreiben den Plot indes eher als gelungenes „Spiel mit Klischees“.

Tatort-Dreharbeiten im fiktiven „Waldlingen“.

© /SWR - Das Erste

Tatort-Dreharbeiten im fiktiven „Waldlingen“.

Von Michael Maier

„Dunkeldeutschland“ hatte man eigentlich immer im Osten vermutet, doch liegt es am Ende auf der Schwäbischen Alb? Das vermutet jedenfalls TV-Kritiker Carsten Heidböhmer und betitelt seine Tatort-Rezension für den „Stern“ entsprechend – trotz aller Unkenrufe aus der Provinz, die sich durch die Produktion vom vergangenen Sonntag stigmatisiert und klischeehaft behandelt fühlt: „‚Lass sie gehen‘ ist ein exzellenter Fernsehfilm, der weit mehr ist als nur ein Krimi. Sie sollten ihn nicht verpassen“, meint Heidböhmer.

Dabei ist für ihn die Sozialstudie des dörflichen Lebens im fiktiven „Waldingen“, das sich wohl überall entlang der Alb zwischen Münsingen und Aalen befinden könnte, vielleicht noch interessanter als der Mordfall an sich: „In dem Film wird die dortige Welt als eng und kleingeistig dargestellt. Geprägt von Religiosität und Pflichterfüllung. Die Kamera (Michael Merkel) fängt die Enge, die Düsternis dieser Welt, in bedrückenden Bildern ein“, schreibt Heidböhmer und vergibt dafür 4 von 5 Punkten.

Tatort-Spiel mit Klischees von der Alb

Angetan zeigt sich auch Holger Gertz von der Süddeutschen Zeitung: „Ein starker Tatort, dem ein eigener Trommelwirbel gebührt. Jede Rolle hervorragend besetzt, die Ermittler Lannert und Bootz eh auf dem Zenit ihres Schaffens“, urteilt der SZ-Kritiker.

Wesentlich skeptischer ist FAZ-Kritiker Oliver Jungen: „Das alles wirkt als Stadt-Land-Gegensatz so albern übersteigert, dass man es nur als Spiel mit Klischees auffassen kann.“ Er sieht weniger die mutmaßliche Enge auf dem Land als kennzeichnend für Baden-Württemberg als den Wegzug junger Familien aus den Großstadt-Regionen.

Wohnen am Tatort-Schauplatz?

Eine Art Lob des Alb-Lebens singt sogar die Schwäbische Zeitung, die näher am malerischen Drehort Bichishausen im Großen Lautertal dran ist: „Und nun rennt Hannahs Schwester Emma weg. Klar, so tickt angeblich die Dorfjugend. Aber nun mal weg von der Fiktion zur Realität: Im „Zeit“-Magazin wurden unlängst einige junge Männer und Frauen zu ihrem Leben auf dem Dorf befragt. Und siehe da: Es gefällt ihnen, sie wollen gar nicht weg.“

Ob das wirklich alle „Locals“ auf dem Land so sehen? Man mache einmal einen Ausflug nach „Waldingen“ und Co. und frage Menschen, die nicht gerade bei der Freiwilligen Feuerwehr oder als „Vereinsmeier“ engagiert sind – andere also als die laut Medienberichten nun sehr frustrierten Tatort-Komparsen von Bichishausen. Das in Stuttgart schon lange ausgestorbene Wort „Neigschmeckt“ soll auf der Alb jedenfalls mancherorts noch zum normalen Sprachgebrauch gehören, während es in der Region Stuttgart so gut wie ausgestorben ist.

Lebensqualität und Immobilienpreise auf der Alb

Etwas seltsam wird es jedenfalls dann, wenn 65 Kilometer östlich von Stuttgart entfernte liegende Städte und Gemeinden ähnliche Immobilienpreise aufzurufen versuchen wie zum Beispiel das hochattraktive Ludwigsburg.

Die Einschätzungen, was lebenswert ist, scheinen also nicht nur gesellschaftlich, sondern auch ökonomisch weit auseinander zu gehen. Zugegebenermaßen gilt das nicht für Münsingen und Bichishausen im Kreis Reutlingen, für St. Johann auf der rauen Alb oder für den benachbarten Zollernalbkreis. Dort kommt man wirklich noch günstig zu Wohneigentum und könnte dank Home Office sogar tageweise nach Stuttgart pendeln – wenn man denn will. Ob das den Älblern dann recht wäre?

Tatort-Besetzung in „Lass sie gehen“

  • Pfarrer Schmiedle (Christoph Glaubacker)
  • Thorsten Lannert (Richy Müller)
  • Sebastian Bootz (Felix Klare)
  • Dr. Daniel Vogt (Jürgen Hartmann)
  • Hannes Riedle (Moritz Führmann)
  • Luise Riedle (Julika Jenkins)
  • Emma Riedle (Irene Böhm)
  • Marek Gorsky (Timocin Ziegler)
  • Jögi Sütterle (Michael Sideris)
  • Martin Gmähle (Sebastian Fritz)
  • Hannah Riedle (Mia Rainprechter)
  • Laila (Muriel Leinauer)
  • Pia Ertl (Hannah Elischer)
  • Musik: Daniel Michael Kaiser
  • Kamera: Michael Merkel
  • Buch: Norbert Baumgarten
  • Regie: Andreas Kleinert

Alb-Tatort in der ARD-Mediathek

Der Tatort „Lass sie gehen“ ist übrigens per Streaming auch nach der linearen Ausstrahlung weiter in der ARD-Mediathek verfügbar. Wer mitreden will, kann ihn noch anschauen.

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Erstellt:
21. November 2024, 17:16 Uhr
Aktualisiert:
21. November 2024, 18:58 Uhr

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