Ein Leben am Puls der Weltgeschichte
Ilse Bitzer weiß nur zu gut, was Geflüchtete mitmachen und wie es ihnen beim Neuanfang in völlig fremder Umgebung ergeht. Zweimal musste sie als Kind selbst den Weg in eine ungewisse Zukunft antreten. Mehr als 30 Jahre hat sie sich ehrenamtlich in der Hilfe für Geflüchtete engagiert.
Von Armin Fechter
Weissach im Tal. Die 83-jährige Ilse Bitzer ist in der Weissacher Kommunalpolitik keine Unbekannte: 34 Jahre lang hat sie als Gemeinderätin und Fraktionsvorsitzende das lokale Geschehen mitbestimmt. Zudem gehörte sie eine Zeit lang dem Kreistag an. Aber kaum einer weiß, welch dramatischen Umstände den Beginn ihres Lebens prägten, das eng am Puls der Weltgeschichte verlief und zur Odyssee durch halb Europa geriet.
Erste Fluchterfahrungen sind in der Familie aus dem 18. Jahrhundert überliefert. Bitzers Vorfahren mütterlicherseits mussten ab 1731 als Protestanten das streng katholisch regierte Salzburg verlassen. Die meisten der damals rund 20000 sogenannten Exulanten wurden von Preußen aufgenommen und im Raum Gumbinnen in Ostpreußen angesiedelt, teils auch im Memelgebiet an der Ostsee, am äußersten nordöstlichen Zipfel des Deutschen Reichs.
Dort wurde Ilse Bitzer, deren Nachname damals noch Böhnke lautete, am 30. Mai 1940 geboren. In Memel, genauer: im Stadtteil Jacken – heute heißt die Stadt Klaipeda und ist Teil Litauens – erlebte die kleine Ilse zunächst eine unbeschwerte Kindheit, während längst der Zweite Weltkrieg tobte. Auch um das scheinbar entlegene Memelland herrschten Wirren. Gemäß dem Versailler Vertrag von 1919 wurde es von Ostpreußen abgetrennt und kam unter französische Verwaltung. Doch als französische und belgische Truppen 1923 im Westen das Ruhrgebiet besetzten, übernahmen litauische Kräfte im Osten im Handstreich das Memelland. 1924 wurde die Annexion international anerkannt; das Gebiet erhielt ein Autonomiestatut, aber die Bewohner verloren ihre deutsche Staatsangehörigkeit und bekamen litauische Pässe.
Abenteuerliche Flucht übers Kurische Haff
Für Bitzers Vater Otto Böhnke bedeutete dies, dass er nach fünfjähriger Dienstzeit aus der Reichswehr entlassen wurde. Er bekam jedoch – da er im Funkdienst ausgebildet war – eine Stelle als Funkangestellter beim Postamt in Klaipeda, wo er zum Stellenvorsteher aufstieg. Aber weil er sich für die Belange der deutschsprachigen Memelländer stark machte, setzte ihn der litauische Staatssicherheitsdienst 1936 fest. Auf abenteuerlichen Wegen konnte Böhnke mit einem Fischerboot übers Kurische Haff ins deutsche Reichsgebiet fliehen. In Berlin bekam er dann einen Posten als Funkangestellter. Als Ausländer war ihm aber der Weg ins Beamtenverhältnis versperrt. Um diese Hürde zu überwinden, musste er sich im Gegenzug verpflichten, nach Memel zurückzukehren, sobald sich die Verhältnisse ändern würden. Dieser Fall sollte 1939 eintreten: Im März zwang Hitlerdeutschland Litauen, das Memelland abzutreten, und im Mai wurde Böhnke als Telegrafeninspektor nach Memel abgeordnet. Böhnke wurde Dienststellenleiter beim Rundfunksender Memel-Jacken, der jedoch kein eigenes Programm ausstrahlte, sondern nur das des Reichssenders Königsberg.
Als ein Jahr später das dritte Kind der Familie, Ilse, zur Welt kam, hatten Deutschland und Russland bereits am 23. August 1939, kurz vor dem deutschen Überfall auf Polen, einen Nichtangriffspakt geschlossen. Vor diesem historischen Hintergrund bezeichnet sich Ilse Bitzer auch als ein Kind des Hitler-Stalin-Pakts.
Familie auf der Flucht im Lastwagen mitgenommen
Als die Rote Armee immer näher rückte, erhielt der Vater im November 1944 die Order, die Sendeanlagen aufzugeben und, so viel geht, auf Lastwagen aufzuladen. Alles sollte Richtung Berlin gebracht werden. Auf der Flucht nahm er im Lkw illegal auch die Familie mit inzwischen vier Kindern mit. An Weihnachten waren sie bei minus 20 Grad in Posen. Im Januar 1945 kam der Befehl, ins brandenburgische Beelitz zu fahren, wo die Familie im ersten Stock des Postamts einquartiert wurde. Dort erlebten die Böhnkes Luftangriffe mit. An einer Dachluke im Obergeschoss sah die knapp fünfjährige Ilse den feuerrot leuchtenden Himmel Richtung Potsdam und Berlin: „Es kommt alles wieder hoch, wenn ich die Bilder aus der Ukraine sehe.“ Amerikanische Truppen rückten durch die Stadt auf Berlin zu, dann marschierte sowjetisches Militär ein. „Wir lagen nächtelang im Kartoffelbunker“, erinnert sich Bitzer mit Schrecken an das rabenschwarze Loch, „ich kann heute noch bei Dunkelheit nicht schlafen, ich brauche immer eine Lücke mit Licht.“
Während die vorbeifahrenden amerikanischen Soldaten Schokolade und Bananen für die Kinder von den Lastern warfen, kehrte mit den Rotarmisten das Grauen ein. „Mutter ging nie raus“, erzählt Bitzer, im Ohr noch die Schreie misshandelter Frauen, „und Vater immer mit einem Kind an der Hand“, um bloß keinen Verdacht zu erregen. Gegenüber dem Postamt, mit dessen Leitung Otto Böhnke nach Kriegsende betraut wurde, befand sich ein Park. Dort waren Tote verscharrt worden. 1947 wurden die Leichen wieder ausgegraben, um sie zu identifizieren. Bitzer: „Den Geruch können Sie nicht vergessen. Es war schrecklich.“
Wer nicht kooperierte, musste mit Repressalien und Verhaftung rechnen.
Bald begann sich die deutsche Teilung abzuzeichnen. In der „Zone“ übernahmen moskautreue Kommunisten das Ruder. Wer nicht kooperierte, musste mit Repressalien und Verhaftung rechnen. Parallel entstand als Gegenpol im nahen Westberlin, von den Amerikanern forciert, der Rundfunksender Rias, der regelmäßig Listen mutmaßlicher Stasispitzel verlas und dabei auf Informationen des Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen zurückgriff. Bitzers ältere Schwester Eva wohnte in Westberlin. Dass sie beim Rias arbeitete, wussten die anderen Böhnke-Kinder nicht.
Einige Male durfte Ilse zu ihr hinfahren. Bei diesen Gelegenheiten bekam sie von der Mutter jeweils einen Brief ins Unterhemd eingenäht, den sie der Schwester – und nur ihr – geben sollte: Informationen. Einmal, es sollte der letzte Besuch sein, schlief sie auf der Rückfahrt ein. Erst an der Endhaltestelle in Belzig wurde sie vom Schaffner geweckt, der sie dann in den Zug zurück nach Beelitz setzte. Ihre Eltern vermuteten derweil das Schlimmste: Dass sie enttarnt und gefasst worden sei. Als sie zuletzt doch vor dem Backsteingebäude stand und sich bemerkbar machte, öffnete lange Zeit niemand. Endlich ging ein Fenster im ersten Stock auf. Von dort fragte die Mutter argwöhnisch, warum Ilse erst jetzt komme und wer sie begleite. Der Vater hatte sich inzwischen über die rückwärtige Gartenmauer in Sicherheit gebracht.
Ein Jahr später, 1951, bekam Otto Böhnke ein anonymes Schreiben, in dem er vor seiner bevorstehenden Verhaftung gewarnt wurde. Geplant sei, ihn an eine andere Stelle abzuordnen, um ihn an einem Ort, wo ihn niemand kennt, ohne Aufsehen festzunehmen: „Seien Sie vorsichtig!“ In der Tat sollte Böhnke angeblich nach Nauen versetzt werden. An der neuen Dienststelle wusste aber, wie er herausfand, keiner etwas davon. Also nutzte er die Fahrt dorthin, die damals noch über Westberlin führte, zur Flucht, zusammen mit der Ehefrau und dem Sohn. Die beiden Jüngsten, Ilse und Ingrid, waren schon zu Beginn der Sommerferien nach Westberlin zu ihrer Schwester Eva und von dort zu einer Tante nach Lindau am Bodensee geschickt worden.
Im Backnanger Flüchtlingslager
Monatelang wussten die elf und neun Jahre alten Kinder nicht, ob sie ihre Eltern jemals wiedersehen würden. Erst Ende Oktober fanden sie sich als anerkannte Flüchtlinge im Durchgangslager Kornwestheim wieder. Von dort ging es nach Backnang ins nächste Flüchtlingslager und erst 1953, als Otto Böhnke in Ulm beim Fernmeldeamt der Post wieder als Beamter eingestellt wurde, konnte Ilse, die bis dahin nur Einheits-, Grund- und Volksschulen kennengelernt hatte, eine Realschule besuchen – wenn schon aus ihrem Wunsch, aufs Gymnasium zu gehen, nichts geworden war. Weitere Stationen waren eine Ausbildung zur technischen Zeichnerin bei Telefunken in Ulm, eine Stelle als Bauzeichnerin bei der Stadt Schwäbisch Hall und nach einem achtmonatigen Besuch und Arbeit bei einer Cousine in Venezuela schließlich eine Tätigkeit als Sekretärin bei Telefunken in Backnang. Es folgten Hochzeit, Umzug nach Weissach im Tal und die Geburt von drei Kindern.
Noch vor der deutschen Wiedervereinigung begann Ilse Bitzer, sich um DDR-Flüchtlinge und Übersiedler zu kümmern. 1990 kam dann die ehrenamtliche Hilfe für Flüchtlinge zuerst vom Balkan, danach aus Afrika und später aus Syrien hinzu. Dabei lagen ihr vor allem die jungen Menschen am Herzen. „Aus allen ist etwas geworden“, sagt sie stolz – mit einer Ausnahme: Rassistische Vorfälle in einer Firma haben einen jungen Mann aus der Bahn geworfen. Ihr letzter Schützling, den sie noch betreute, hat den Beruf des Kinderpflegers erlernt und arbeitet in einer Kita in Schwaikheim. Warum sie sich so eingesetzt hat, ist für Bitzer keine Frage: „Ich bin Flüchtling. Ich weiß, wie schwer das ist, neu anzufangen.“