Ein lustloser Hochzeitstag
Die große Koalition hat ihr erstes Jahr geschafft – und liebäugelt weiter kokett mit der Scheidung
Es gibt viele Gründe für die Scheidung, aber der Hauptgrund ist und bleibt die Hochzeit. Der Satz wird dem US-Komiker Jerry Lewis zugeschrieben. Aber er hätte auch aus den Reihen der deutschen Sozialdemokratie kommen können. Denn den Scheidungsfantasien in der großen Koalition, die sich an diesem Donnerstag seit einem Jahr über die Runden quält, liegt die frustrierende Entscheidung, sich in Ungewolltes zu schicken, zugrunde.
Schwarz-Rot mag nicht miteinander regieren. Trotzdem hat sich das Bündnis vertraglich verpflichtet, eine Regierung zu stellen, die sich am Ende – aufgespaltet in zum Teil höchst unterschiedliche Parteiinteressen – an Ergebnissen messen lassen muss. Sicher: Regieren muss keine Freude machen. Aber das darf nicht bedeuten, die Republik fast Woche für Woche daran zu erinnern, wie trost- und lustlos diese Koalition miteinander verbunden ist.
Dabei fällt die Zwölf-Monats-Bilanz, nüchtern betrachtet, gar nicht mal so schlecht aus. Etwa 40 Projekte hat die große Koalition bisher in einem fairen Ringen erledigt – darunter höchst einschneidende. Das Recht auf Familiennachzug für Flüchtlinge ist dauerhaft eingeschränkt. Der Tritt auf die Mietpreisbremse wurde verstärkt. Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen wieder genauso viel für die Krankenversicherung. Es gibt das Recht auf Rückkehr von Teil- in Vollzeit. Es wäre ungerecht, dieser ungeliebten großen Koalition den Vorwurf zu machen, ihr gegenseitiges Misstrauen blockiere eine politische Weiterentwicklung. Schwarz-Rot ist zum Kompromiss bereit. Das nennt man in der Politik Handlungsfähigkeit.
Dass bis auf Weiteres genug Geld in der Staatskasse sein dürfte, erleichtert zudem die Zusammenarbeit. Kostspielige Beschlüsse – etwa deutlich höhere Ausgaben für mehr Pflegepersonal in Heimen und Hospitälern, für das stark nachgefragte Bau-Kindergeld oder für bessere Kinderbetreuung – könnten die Koalition darin bestärken, bis zum regulären Ende der Legislaturperiode weiterzuplanen.
Das Gegenteil ist der Fall. Nach einem Jahr fühlen sich viele Wichtigtuer in beiden Lagern berufen, das vorzeitige Ende der Koalition als Glücksfall anzupreisen. In der SPD haben sich die linken Neinsager noch immer nicht mit dem Mitgliedervotum für Schwarz-Rot abgefunden. Ihre Sticheleien gegen Parteichefin Andrea Nahles mögen nicht zuletzt wegen des gelungenen Grundrenten-Coups leiser geworden sein. Bei bewegungslosen Umfrageergebnissen um die 15 Prozent aber ist die parteiinterne Unzufriedenheit jederzeit wieder anzustacheln. Eitle konservative Kreise in der Union machen der SPD dieses Geschäft leicht. Wenn die überbewertete Werteunion nach einem vorzeitigen Wechsel im Kanzleramt ruft, muss sich niemand in der CDU darüber wundern, beim Koalitionspartner auf Widerstand und Widerspruch zu stoßen.
Ein vorzeitiger Rückzug von Angela Merkel, den nach einer aktuellen Umfrage 67 Prozent der Deutschen nicht wollen, steht absehbar nicht zur Debatte – gerade weil dieser fragile schwarz-rote Pakt an seiner Spitze eine personelle Kontinuität braucht. Auch deshalb haben die Koalitionsgegner in Union und SPD eine Pseudodebatte vom Zaun gebrochen, die zwar parteiinterne Machtspiele offenbart, mit einer verantwortungsvollen Politik aber nicht das Geringste zu tun hat. SPD und Union wissen nur zu genau: Neuwahlen nutzen in absehbarer Zeit niemandem. Im Gegenteil: Wer jetzt die Scheidung einreicht, wird am Ende mit leeren Händen dastehen. In diesem Sinn: zum Geburtstag viel Glück!
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