IG-Metall-Vize Jürgen Kerner
„Ein Panzer ersetzt keinen Porsche“
Die IG Metall kämpft mit einem bundesweiten Aktionstag am 15. März um die Zukunft der Industrie. Dabei setzt sie nun auch auf den Boom der Rüstungswirtschaft, wie der Gewerkschaftsvize Jürgen Kerner erläutert.

© IG Metall / Alexander Englert
Jürgen Kerner ist seit Oktober 2023 Zweiter Vorsitzender der IG Metall.
Von Matthias Schiermeyer
Die IG Metall erwartet bei ihrem Aktionstag am 15. März eine hohe fünfstellige Teilnehmerzahl in fünf Großstädten – allein in Stuttgart weit mehr als 20 000. Gewerkschaftsvize Jürgen Kerner benennt die aktuellen Forderungen an die Politik.
Herr Kerner, Sie sind Hauptredner beim großen Aktionstag am 15. März in Stuttgart. Wie lautet Ihre Kernbotschaft?
Wir wollen zeigen, dass wir nicht gegen etwas sind, sondern für die Zukunft des Industriestandortes und der Arbeitsplätze. Da geht es nicht nur um Auto und Maschinenbau, wir reden über alle wichtigen Branchen, inklusive der industrienahen Dienstleistungen. Wir kämpfen um gut bezahlte Industriearbeitsplätze in diesem Land, die aus meiner Sicht auch das Rückgrat der Gesellschaft sind.
Die IG Metall hat im Vorfeld der Bundestagswahlen ein Investitionspaket im dreistelligen Milliardenbereich gefordert – sehen Sie sich mit dem aktuellen Ergebnis von Union und SPD erhört?
Die möglichen Regierungsparteien senden ein ganz wichtiges Signal: Sie haben verstanden, dass sich die Transformation und der Ausbau der Infrastruktur nicht aus Haushaltsmitteln finanzieren lassen. 500 Milliarden Euro ist ein mutiges Zeichen der Politik, wenngleich darin weniger enthalten ist als in unserem Forderungspaket von 600 Milliarden Euro. Ich gehe fest davon aus, dass nun ganz viele Organisationen bei der Politik vorstellig werden und erklären, sie bräuchten einen Anteil am Sondervermögen. Die Politik muss sehr schnell deutlich machen, dass das Sondervermögen nicht mit Gießkannen verteilt wird, sondern dass man ganz gezielt die entscheidenden Zukunftsthemen angeht. Es geht um die Infrastruktur, den Netzausbau und den Industriestrom. Dies muss sie noch vor der Sommerpause konkretisieren.
Was haben die Industrieunternehmen von den riesigen Summen?
Eine unserer zentralen Forderungen ist der Industriestrompreis. Wenn wir bezahlbaren Strom bekommen, profitiert ein Großteil der Industrie davon, nicht nur das Stahlwerk und die Gießerei, sondern auch die Batteriefabrik, die wir ansiedeln wollen, die Halbleiterfabrik oder das Rechenzentrum. Das sichert und schafft Arbeitsplätze in den Regionen. Und wenn wir im ersten Schritt die Netzentgelte komplett rausnehmen würden, dann würden auch der Bäcker, der Metzger und wir als Privatleute davon profitieren.
Und was ist mit den Investitionen?
Wenn wir in die Infrastruktur investieren, brauchen wir Industriegüter, Baustoffe, Dienstleistungen. Dann wird es sofort wirksam bei den Unternehmen, die neue Aufträge bekommen. Insofern würde das Sondervermögen etwas in Gang setzen. Insgesamt kann wieder mehr Planbarkeit für die Unternehmen entstehen, um neue Kapazitäten aufzubauen. Das alles zahlt auf Arbeitsplätze ein.
So fließt Geld in alle möglichen Kanäle?
Wir müssen uns auf ein paar Punkte für die Industrie konzentrieren – etwa auf das Thema Ladeinfrastruktur. Alle EU-Länder sind dazu verpflichtet, ausreichend Ladestationen für PKW und LKW zur Verfügung zu stellen. Die Elektro-Lkw von Daimler Truck oder MAN sind verfügbar, doch fehlen die Superlader dazu. Wenn solche Rahmenbedingungen wieder besser werden, werden plötzlich andere Geschäftsmodelle realisierbar.
Müsste man nicht jetzt schon darüber sprechen, wer das alles bezahlen soll?
Schon in den vergangenen Jahren ist nicht darüber gesprochen worden, wer es bezahlt, wenn uns die Infrastruktur unterm Hintern wegbricht, wenn die jungen Menschen keine Perspektive mehr haben und die Industrie verschwindet. Natürlich ist bei dem Sondervermögen klar, dass das es irgendwann zurückgezahlt werden muss. Auf der anderen Seite bringen wir mit dem Geld unseren Wirtschaftsstandort auf Vordermann und erhalten unsere industrielle Stärke. Deswegen sind Schulden für den Ausbau der Infrastruktur völlig gerechtfertigt. Wenn die Unternehmen erfolgreich sind, werden sie über Steuern diese Schulden wieder tilgen. Nicht zu investieren und zu glauben, dass man dadurch spart, ist völlig naiv. Wenn wir diese Arbeitsplätze verlieren, dann bezahlen wir im Endeffekt Arbeitslosigkeit und den Niedergang des Standorts.
Friedrich Merz hat im Wahlkampf viel versprochen, um der Wirtschaft Investitionsanreize zu geben – wie viel Spielräume sehen Sie für Steuersenkungen im Lichte des Sondervermögens?
Wir haben noch nie Spielräume für pauschale Steuersenkungen gesehen. Wir müssen die Unternehmen entlasten, die Arbeitsplätze schaffen oder in neue Technologien und Geschäftsmodelle investieren. Von sich aus machen sie das offensichtlich nicht genug. Für uns war immer klar: Am Tag eins nach der Wahl wird sich zeigen, dass wir über Sondervermögen oder die Reform der Schuldenbremse reden müssen. Das war auch allen Ministerpräsidenten klar, egal welcher Parteifarbe. Jeder wusste, dass ein paar Aussagen von Friedrich Merz sehr populistisch formuliert sind, und nicht haltbar sein werden. Der Bundesverband der Industrie, der wahrlich nicht unsere Vorfeldorganisation ist, wollte zwar formal keine Reform der Schuldenbremse, hat aber über drei Sondervermögen gesprochen, was ja nichts anderes ist als Sonderschulden. Selbst dem Arbeitgeberdachverband war klar: Wir müssen jetzt in die Zukunftsthemen investieren.
Sehen Sie auch Glaubwürdigkeitsprobleme bei Friedrich Merz nach seiner Kehrtwende beim Thema Schuldenbremse?
Er muss das jetzt natürlich seinen Wählern erklären. Ich finde es mutig, jetzt dieses Zeichen zu setzen. Besser sofort die richtige Diskussion führen als erst in ein paar Monaten. Die Kehrtwende wird ja verknüpft mit den Herausforderungen für die Sicherheit. Das macht es den Skeptikern in der Union vielleicht leichter, den Schritt mitzugehen. Jeder Experte weiß, dass es auch schon vor dem Eklat mit Trump im Weißen Haus ein Thema war, mehr für die Verteidigung zu tun. Mir ist aber wichtig, dass wir nicht mit dem Finger auf jemanden zeigen, sondern dass wir sagen: lieber spät die Notwendigkeit erkennen als gar nicht. Das wäre auch mein Appell an Grüne und FDP, jetzt nicht zu taktieren, sondern Verantwortung zu übernehmen, damit wir ins Handeln kommen.
Die Aufrüstung soll faktisch mit einer Abschaffung der Schuldenbremse gelingen – ist Ihnen das noch geheuer?
Diese Lösung nimmt zur Kenntnis, dass keinem so richtig klar ist: Was heißt das überhaupt, wenn wir unsere Verteidigungsfähigkeit in Europa selbst herstellen müssen? Das ist nicht berechenbar momentan. Es gibt nach wie vor die Hoffnung, dass im Bereich der Sicherheit eine Zusammenarbeit mit den Amerikanern möglich ist. Angesichts der Unsicherheiten wäre momentan jede Zahl, die man aufschreibt, gleichzeitig richtig und falsch. Für uns ist ein anderer Punkt maßgeblich: Wir fordern einen industriepolitischen Plan für die wehrtechnische Industrie. Wenn wir das aktuelle Sondervermögen mit den 100 Milliarden Euro anschauen, da fließt der größte Anteil nach Amerika, weil wir dort viele Rüstungsgüter kaufen. Weiterhin in den USA im großen Stil auf Einkaufstour zu gehen, selbst wenn der Präsident dort es will, wäre völlig kontraproduktiv.
Auch da stellt sich die Frage, inwieweit kommt es hier bei den Unternehmen an?
Wir könnten manche Kapazitäten gar nicht von heute auf morgen hochfahren, weil wir die Zulieferkette zunächst wieder aufbauen müssen. Da sind viele mittelständische Unternehmen beteiligt, die nicht zur Rüstungsbranche gehören, sondern die Teile liefern, die für zivile, wie für Rüstungsgüter gebraucht werden. Diese Kapazitäten muss man stabilisieren und erweitern und dann überlegen: Wie kann eine sinnvolle europäische Zusammenarbeit aussehen?
Das bedeutet einen deutlichen Ausbau der Rüstungsindustrie in Deutschland?
Das wäre eine Konsequenz der jetzigen Lage. Es ist eine politische Branche, die ihre Existenzberechtigung hat, weil die Politik sagt: Wir brauchen Verteidigungswaffen. Wenn wir in Europa zu dem Schluss kommen, wir müssen uns selbst verteidigen, dann müssen wir die notwendigen Verteidigungssysteme selbst herstellen können.
Kann Rüstung den Automobilbereich als industrielles Zugpferd ablösen?
Nein, das halte ich nicht für realistisch. Der Aufbau von Kapazitäten bei den Rüstungsunternehmen kann nie den Beschäftigungsverlust bei Autos und beim Maschinenbau komplett auffangen. Ein Panzer ersetzt keinen Porsche, nur weil sich beides bewegt. Die Marge bei einem Porsche ist so hoch, weil es so viele reiche Leute gibt, die sich das leisten können. Die Margen bei Verteidigungssystemen, die wir mit Steuergeldern bezahlen, würde ich deutlich geringer einschätzen als bei Luxusgütern.
Der Rüstungsbedarf wächst – der Bedarf an neuen Autos offenbar nicht?
Es gibt ja immer wieder die Idee: Wir schließen Autofabriken und bauen dort Panzer. Das ist im Einzelfall machbar, wie wir das bei Alstom in Görlitz sehen. Da wurden bisher Züge geschweißt – demnächst Panzerwannen. So hat man für 400 Menschen eine Anschlussbeschäftigung bei Krauss Maffei Wegmann gefunden. Dieses Modell massiv zu kopieren, halte ich für eine unrealistische Theorie. Ich gehe davon aus, dass wir im Rüstungsbereich einen Aufbau an Beschäftigung kriegen werden, was aber die möglichen Verluste von Auto und Maschinenbau bei weitem nicht ausgleichen kann. Wir müssen diese wichtigen Branchen wieder stabilisieren. Wir werden verstärkt eine Diskussion führen müssen, ob jemand, der in Europa Industrieprodukte verkaufen will, zumindest einen Teil der Wertschöpfung hier vornehmen muss. Wir müssen Europa auch als Industriestandort wieder stärken.
Die IG Metall hat sich lange für die Konversion von militärischer in zivile Produktion eingesetzt – wie groß ist nun das interne Konfliktpotenzial?
Natürlich ist die IG Metall nach wie vor eine Organisation, die sich für Frieden einsetzt und eine klare Position hat: Wir wollen keine Aufrüstung auf der Welt. Wir merken momentan nur, dass wir für Abrüstungsdebatten keinen Ansatzpunkt finden, weil wir jetzt damit konfrontiert werden, dass wir uns erst einmal selber verteidigen müssen und feststellen, dass wir dazu nicht in der Lage sind, wenn die Amerikaner nicht mehr mitspielen. Deswegen sprechen wir uns zwar weiterhin gegen eine Aufrüstung von Europa aus, sehen aber die Notwendigkeit für eine vernünftige Ausrüstung der Armeen zum Zweck der Landesverteidigung – wohl wissend, dass das ein fließender Übergang ist.
Verabschiedet sich die IG Metall von ihrer Rolle als Friedensverteidiger?
Es gibt keine Lager in der IG Metall nach dem Motto: „Ihr seid die Kriegstreiber – wir sind die Friedensleute.“ Die Kolleginnen und Kollegen in der Rüstungsindustrie haben genauso ein Interesse an Frieden oder Sicherheit wie die anderen. Auf der anderen Seite gibt es eine Akzeptanz zu sagen: Bevor die Aufträge nach Amerika gehen, machen wir es lieber im eigenen Land oder in Europa. Grundsätzlich bin ich überzeugt: Über kurz oder lang wird und muss es wieder eine große Debatte über eine weltweite Abrüstung geben. Dann müssen die Gewerkschaften eine mahnende Stimme sein und sagen: Eigentlich müssen wir alle runterkommen, damit das nicht in Eskalation ausartet.
Führender Industrieexperte der IG Metall
VizeJürgen Kerner (56) ist seit Oktober 2023 Zweiter Vorsitzender der IG Metall – davor war er ihr oberster Kassenwart. Der Augsburger ist der führende Industrieexperte der Gewerkschaft – zudem Rüstungsfachmann.
Aktionstag Am 15. März veranstaltet die IG Metall einen Aktionstag in Stuttgart, Frankfurt, Köln, Leipzig und Hannover. Auf dem Stuttgarter Schlossplatz ist von „fünf vor zwölf“ bis 14 Uhr eine Kundgebung als eine Art Familienfest geplant.