Ein schwäbisches Känguru namens Emma
Nicole und Falk Gräsing halten 15 Kängurus in einem Gehege in Althütte. Die Tiere fühlen sich pudelwohl im Schwäbischen Wald und vermehren sich kräftig. Mit den steigenden Temperaturen verlassen die Jungen immer öfter den mütterlichen Beutel.

© Alexander Becher
Nicole Gräsing hat Känguru Emma mit der Flasche großgezogen. Das war mehr Aufwand als bei einem Menschenbaby, erinnert sich die tierbegeisterte Pflegemutter. Sie und ihr Mann Falk halten in Althütte neben 15 Wallabys auch Emus, Alpakas und Hühner. Fotos: A. Becher
Von Annette Hohnerlein
ALTHÜTTE. Emma kommt mit großen Sprüngen auf Nicole Gräsing zu, als diese das Gehege betritt. Die sechsjährige Kängurudame hat keinerlei Berührungsängste – natürlich nicht, denn sie wurde von Gräsing aufgezogen. Jetzt möchte sie ein Leckerli. Der Fotograf und die Frau von der Presse bekommen beide eine Nuss, um sie Emma anzubieten. Ohne Scheu beugt sich das schmale Köpfchen mit den großen spitzen Ohren über die Hand. Als die Nuss verspeist ist, hebt Emma den Kopf, die großen dunklen Kulleraugen fragen: Krieg ich noch eine? Ein Anblick zum Dahinschmelzen.
Das Geburtsgewicht bei Wallabys beträgt weniger als ein Gramm.
Emma fiel als Neugeborenes aus dem Beutel ihrer Mutter. Vielleicht wurde sie auch von ihr hinausgeworfen, weil sie krank war, man weiß es nicht. Jedenfalls fand Nicole Gräsing das kleine rosa Würmchen auf dem kalten Steinboden im Stall, völlig unterkühlt und mehr tot als lebendig. Sie nannte die Kleine Emma und zog sie auf, als wäre sie eine Kängurumutter. Vier Monate lang trug sie sie ständig in einem Beutel bei sich. Im Büro, beim Einkaufen, im Kino, beim Musikverein, überall war Emma dabei. Sie bekam ein Fläschchen mit spezieller Kängurumilch, das Pulver dafür bestellte Gräsing in Australien. Alle zwei bis drei Stunden war Füttern angesagt, auch nachts. „Das war mehr Aufwand als bei einem Menschenbaby“, erinnert sich Emmas Amme, „aber es war eine tolle Erfahrung.“ Und die Mühe hat sich gelohnt. Emma hat sich zu einem Prachtexemplar entwickelt. Zusammen mit 14 Artgenossen lebt sie in einem weitläufigen Gehege am Ortsrand von Althütte, direkt am Wohnhaus von Nicole und Falk Gräsing. Die Gruppe gehört zu den Rotnackenwallabys, einer mittelgroßen Känguruart, die auf dem australischen Festland vorkommt. Ihren Namen bekamen sie wegen der rötlichen Tönung ihres Fells im Nacken- und Schulterbereich. Alle sieben weiblichen Tiere der Gruppe tragen ein Junges in ihrem Beutel. Die Tragzeit beträgt nur rund 30 Tage, bei ihrer Geburt wiegen die Kleinen weniger als ein Gramm. „Sie krabbeln selbstständig in den Beutel und saugen sich an den Zitzen fest. Neun Monate bleiben sie da drin“, erzählt Nicole Gräsing. Als die Sonne hinter den Wolken hervorkommt, verlässt eines der größeren Jungtiere das Hotel Mama und erkundet die Umgebung. Aber sobald die Mutter in großen Sätzen davonspringt, hüpft das Kleine wie ein Flummi hinterher: „Warte, Mama, nicht so schnell!“

© Alexander Becher
Eines der größeren Jungtiere erkundet mit seiner Mutter die Umgebung und genießt das Leben.
Was hat das Ehepaar Gräsing dazu bewogen, eine Tierart, die am anderen Ende der Erde zu Hause ist, mitten im Schwäbischen Wald anzusiedeln? Die Idee ist aus einem Scherz heraus entstanden. Die beiden betreiben schon seit 1998 eine Lama- und Alpakazucht. Aus Platzgründen wurden die Tiere in ein anderes Gehege verlegt. Als Gräsings mit Freunden darüber sprachen, wie man das nun leer stehende Gehege nutzen könnte, tauchte die Frage auf: „Warum nicht Kängurus?“ Dann kam eins zum anderen: die Suche im Internet, der Besuch bei einem Züchter und schließlich im Jahr 2000 die ersten drei Tiere, ein Bock und zwei trächtige Weibchen.
Die Gruppe vermehrte sich prächtig, allerdings wurde sie nach einiger Zeit durch einen Fuchs stark dezimiert. Deshalb leben jetzt außer den Wallabys noch drei australische Emus im Gehege, Landsleute quasi. Die stattlichen Laufvögel halten den Fuchs mit ihrer resoluten Art auf Distanz. Außerdem beschützen sie die Hühner, die ebenfalls im Gehege leben, vor Angriffen von Raubvögeln. „Die machen ihren Job; seither ist nichts mehr passiert“, stellt Nicole Gräsing zufrieden fest.
Sie greift nach einer großen blauen Tonne voller getrockneter Brötchen und schüttelt sie. Das Geräusch lockt zwei Emus und ein paar Hühner an, die sich über die Leckereien hermachen. „Damit kann ich überprüfen, ob alle fressen und gesund sind“, erklärt Nicole Gräsing, „das ist wichtig bei einer solchen offenen Haltung.“ Nur die Kängurus interessieren sich im Moment nicht für den Brötchensnack. Eines nach dem anderen streckt sich auf dem Rasen aus und genießt die warmen Sonnenstrahlen. „Chillzeit“, bemerkt Gräsing.