RKI-Protokolle
Ein Skandal, der keiner ist
Die veröffentlichen Corona-Protokolle des RKI-Krisenstabes zeigen ein Gremium, das sich immer wieder anhand der jeweils aktuellen Fakten- und Studienlage verbessert. Gute Arbeit, findet unser Berliner Korrespondent Norbert Wallet.
Von Norbert Wallet
Vielleicht hätten das Robert-Koch-Institut (RKI) und das Aufsicht führende Bundesgesundheitsministerium die Protokolle des RKI-Krisenstabes frühzeitig selbst veröffentlichen sollen. So hat man denjenigen nur einen unnötigen Triumph verschafft, die nach einem Klage-Erfolg mit dem Pathos vermeintlicher Enthüller auftreten.
Das hätte man vorhersehen können, denn das Milieu der Corona-Leugner und Verschwörungsmystiker nutzt jeden Vorwand, um auch dort Erregung zu schüren, wo kein Anlass dazu vorliegt. Denn tatsächlich könnten die Protokolle unter der Überschrift stehen: Wie Sie sehen, sehen Sie nichts!
Ein Gremium, das mit sich ringt und kontrovers diskutiert
Tatsächlich zeigen die 2000 Seiten, auf denen die Sitzungen der RKI-Experten mal stichwortartig, mal ausführlicher niedergelegt sind, ein Gremium, das mit sich ringt, das sich immer wieder verbessert, wenn neue Erkenntnisse vorliegen, das Fehleinschätzungen begeht und korrigiert, das Studien heranzieht und bewertet, das kontrovers diskutiert und schließlich all das in Ratschläge an die Politik verdichtet. Das ist so ziemlich das genaue Gegenteil dessen, was sich die Kritiker vorgestellt hatten: nämlich ein Gremium, das Anordnungen der Regierung kritiklos folgt und durchwinkt.
Man muss nun aber genau unterscheiden, was die Protokolle zeigen und was nicht. Sie zeigen eine gut funktionierende Expertengruppe, die sich ihrer Verantwortung bewusst ist. Nicht mehr und nicht weniger. Was sie nicht zeigen ist, dass in der Coronazeit keine Fehler gemacht worden sind. Die sind natürlich geschehen in einer plötzlichen Bedrohungssituation, für deren Bearbeitung es keine Blaupause gab. Das gilt es im Rückblick immer zu beachten: Versuch und Irrtum war die einzig mögliche Methode.
Politiker räumen Irrtümer offen ein
Und Irrtümer haben sich immer wieder gezeigt. Die Politik versucht keineswegs sie unter den Teppich zu kehren: Das Thema Masken war immer heikel – von der ersten Einschätzung ihrer Wirksamkeit bis zu Kapriolen bei der Beschaffung ausreichender Mengen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat eingeräumt, dass die Schließungen von Schulen und Kitas zu lange gedauert hat. Die rigorosen Besuchsregeln in Altenheimen zu Beginn der Pandemie haben viel Leid für Betroffene und Angehörige heraufbeschworen. Und die Erwartung, dass die Impfung noch viel mehr leistet als den Eigenschutz, was immerhin einen bahnbrechenden Erfolg darstellte, war spätestens nach dem Auftreten neuer Virusvarianten übertrieben.
Vorrang der schlechten vor der guten Prognose
Im Nachhinein lässt sich manches als zu hart bewerten. Aber das wird der Situation und der Verantwortung der politisch Handelnden nicht gerecht. Der Philosoph Hans Jonas hat in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ einen wichtigen Grundsatz entwickelt: Bei allen Entscheidungen, die zukünftige Generationen betreffen und bei denen wir unser aktuelles Handeln in den Konsequenzen nicht voll überschauen können, müsse die schlechte Prognose stets Vorrang vor der guten haben, sagt Jonas. Das ist eine sehr weise Maxime – und die deutsche Politik hat sich in der Coronazeit maßgeblich daran orientiert. Deshalb ist es verständlich und auch im Rückblick richtig, dass in allen Zweifelsfällen die jeweils weitreichender Maßnahmen ergriffen worden sind. Deutschland ist damit, zumindest was den Schutz der vulnerablen Gruppen angeht, gut gefahren.
Fehler aber müssen aufgearbeitet werden, um zukünftig noch besser gerüstet zu sein. Ein Untersuchungsausschuss ist dafür sicher der falsche Ort.