Ein tastendes Verstehen-Wollen

Bewegende Feierstunde des Backnanger Arbeitskreises „Erinnern und Gedenken“ zum Gedenken an die Befreiung von Auschwitz

Vor 75 Jahren wurde das KZ Auschwitz befreit. Der Backnanger Arbeitskreis „Erinnern und Gedenken“ organisierte aus diesem Anlass eine bewegende Gedenkfeier mit sehr einfühlsamen Beiträgen in der Friedhofkapelle auf dem Backnanger Stadtfriedhof.

Der japanischen Musikstudentin Karera Fujita gelang mit ihrem Beitrag beklemmend dicht und schmerzhaft schön der Blick in den Abgrund. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Der japanischen Musikstudentin Karera Fujita gelang mit ihrem Beitrag beklemmend dicht und schmerzhaft schön der Blick in den Abgrund. Foto: A. Becher

Von Renate Schweizer

BACKNANG. „Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ Ludwig Wittgenstein hat das gesagt, nein, geschrieben. Ernst Hövelborn zitierte ihn zu Beginn der Feierstunde zum Gedenken an die Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren. Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen? Über Auschwitz kann man nicht reden, über Auschwitz darf man nicht schweigen. Über Auschwitz weder zu reden noch zu schweigen, das gelingt noch am ehesten mit den Mitteln der Kunst – und so versuchte der Arbeitskreis „Erinnern und Gedenken“ um Roland Idler diesen „nie zu heilenden Riss in der deutschen Identität“ (Adorno) nicht gerade zu überbrücken, aber vielleicht doch ein wenig auszuloten mit Bildern, Texten, Gedichten und Musik – alles sorgsam ausgewählt und zusammengehalten von Ernst Hövelborn vom Heimat- und Kunstverein Backnang.

Beklemmend dicht und schmerzhaft schön gelang der Blick in den Abgrund der japanischen Musikstudentin Karera Fujita. Im ersten ihrer Gesangsbeiträge – das Wort „Gesang“ trifft nicht so ganz, was sie da tat – erklang ein koreanisches Klagelied heraus aus langer Stille: Ein Schluchzen der kauernden Frau am Boden, ein Singsang, ein fassungsloser Schrei, ein Wimmern, ein Stammeln, Worte in Auflösung (und ohnehin Koreanisch) und nicht nur die Worte, auch die Tongrenzen lösten sich auf: Halbtöne, Vierteltöne, Siebenachtelstöne, ein Verschwimmen im Ungefähren und dann wieder scharfkantige Klarheit wie ein Schnitt mit dem Skalpell.

„Lady Lazarus“ und ein Ort jenseits von Verzweiflung, Wut und Angst

Dito später das vertonte Gedicht von Sylvia Plath „Lady Lazarus“: Acht Minuten lang nahm sie uns mit an einen Ort jenseits von Verzweiflung, Wut und Angst – man weiß nicht, wo eine so junge Frau die Kraft und das Wissen hernahm, aber es war alles da. Gut, dass Ulrich Olpp das Gedicht anschließend noch in einer Übersetzung von Ursula Hefter-Hövelborn gelesen hat. Er las, wie die anderen Texte, auch diesen mit Verve, großem Respekt und sehr berührend – auch Lesevortrag kann Kunst sein – und doch verschaffte einem der kleine Umweg über die Kognition, den Worte nun einmal nehmen müssen, um beim Hörer anzukommen, den minimalen Abstand, den jedermann und jedefrau nach der Gesangsdarbietung brauchte, um sich wieder in Zeit und Raum zu orientieren.

Jetzt konnte man auch die Bilder wieder sehen. Es waren drei. Leitmotiv Stacheldraht. Clemens Hövelborn schilderte die Situation der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee: Durch Stacheldraht hindurch sieht man Zeichnungen, Schrift, Fotos, Zeitungsausschnitte in einer dreiteiligen Collage. Herbert Seybold zeigte die Häftlingskleidung als den Rest, der bleibt, wenn alles andere als Rauch und Asche über die Zäune des Lagers verweht ist. Gerhard Hezels Werk stand auf dem Altar der Friedhofkapelle: Er hatte einer Stacheldrahtrolle zwei Kohlestücke aufgesetzt, mit einem Kamm das Bärtchen angedeutet, die Stirnhaare schräg – und Hitler glotzte einen aus stechenden Augen an, ein Mittelding zwischen Dämon und Popanz, umkränzt von Knochen.

In den Texten, die gelesen wurden, spielte die Beschreibung des „Muselmanns“ eine große Rolle. Ernst Hövelborn erklärte den erklärungsbedürftigen Begriff: Im Lagerjargon von Auschwitz war Muselmann die Bezeichnung für einen Häftling, der sich selbst aufgegeben hatte und infolgedessen auch von den Mithäftlingen aufgegeben worden war: Der Körper ausgemergelt und übersät von Infektionen, Ödemen und Ungeziefer, alles Menschliche erloschen, ein Untoter: Wesen in der Grauzone – der Körper bewegt sich noch, die Person ist daraus verschwunden. Der Muselmann ist Bewohner des „Dritten Reiches“ im wahrsten Sinn des Wortes, eines dritten Reiches zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. In anderen Lagern hießen sie anders, „Kretiner“, „Schwimmer“ oder „Gamel“ aber in allen Lagern waren sie massenhaft und schattenhaft präsent. Sie starben schweigend.

In seiner Begrüßungsrede hatte Idler den Bogen von Auschwitz nach Backnang geschlagen, indem er die Backnanger Bürgerinnen benannte, die in den Lagern ermordet worden waren oder vorher Suizid begangen hatten. Es waren Dora Caspari, Herta Lehmann, Julie Frida Brandenburger und Martha Bruchsaler, die direkt in Auschwitz ermordet wurde. Idler würdigte auch Emmanuel Feigenheimer, den einzigen Juden, der in Backnang und ab Februar 1945 in Theresienstadt überlebt hat und die beiden Euthanasieopfer, die ganz in der Nähe der Friedhofkapelle begraben sind: Berta Feuchter und Emma Jernz. Diesen Bogen der Verbindung zu Backnang schloss zum Abschluss Walter Schieber mit einem sehr persönlichen Text, in dem er Schicksal und Hinrichtung des polnischen Zwangsarbeiters Franciszek Gacek mit seinem eigenen, etwa gleichzeitigen, Geborenwerden verknüpfte: Ein tastendes Verstehen-Wollen des Unbegreiflich-Bleibenden, das sich jeder Deutung entzieht. Es kann nur benannt werden. Sogar die Frage, ob es uns Nachgeborenen überhaupt zusteht, das Unbegreifliche zu betrauern, muss offen bleiben. „Wenn wir am Ende nicht verstanden haben“, so hatte Hövelborn eingangs gesagt, „kommen wir vielleicht der Wahrheit am nächsten.“

Die Friedhofkapelle war restlos besetzt. Zugleich konzentriert und fassungslos, ganz wach und ganz erschöpft, ließen sich Menschen aufs Erinnern und Gedenken ein und auf die Zurkenntnisnahme des unheilbaren Risses. Mehr war nicht möglich.

Die Friedhofkapelle ist täglich bis 18 Uhr geöffnet und lädt zum stillen Gedenken ein. Ein Buch mit den Namen der Toten – ob sie nun Opfer der Mörder oder möglicherweise selbst in Schuld verstrickt waren – liegt aus.

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Erstellt:
3. Februar 2020, 06:00 Uhr

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