Regierungserklärung im Bundestag

Merz’ Antrag – und die neue Macht der AfD

Eigentlich soll es bei der Regierungserklärung am Mittwoch um die Gewalttat von Aschaffenburg gehen. Es war eine historische Debatte. Erstmals hat ein Antrag der Union durch Stimmen der AfD eine Mehrheit gefunden.

Scholz und Merz hatten bei der Debatte kaum einen Blick füreinander übrig.

© Kay Nietfeld/dpa/Kay Nietfeld

Scholz und Merz hatten bei der Debatte kaum einen Blick füreinander übrig.

Von Tobias Peter und Rebekka Wiese

Olaf Scholz neigt dazu, sich hinter floskelhafter Sprache zu verstecken. Und er ist bekannt für eine sparsame Gestik. An diesem Tag spricht er klar und deutlich. Es gibt eine Reihe Sätze, die er noch einmal wiederholt. „Es gibt Grenzen, die darf man als Staatsmann nicht überschreiten“, sagt der Bundeskanzler in Richtung des Unionskanzlerkandidaten Friedrich Merz. Dessen Vorschläge zur Migrationspolitik seien aber verfassungs- und europarechtswidrig. Scholz greift auf, dass Merz gesagt haben soll, er gehe bei dem Thema „All in“. So etwas, so der Kanzler, sage man beim Pokerspiel daher. „Der Zusammenhalt Europas ist doch kein Spieleinsatz, und ein deutscher Bundeskanzler darf kein Zocker sein, denn er entscheidet im schlimmsten Fall über Krieg und Frieden“, ruft er ins Plenum des Bundestags.

„Nicht der oberste Notar der Republik“

Merz wird später sagen, es sei für ihn eine Gewissensfrage, in der Migrationspolitik einen echten Kurswechsel einzuleiten. Und er wird dem Kanzler vorhalten, dieser ziehe sich auf rechtliche Grenzen zurück, statt politisch etwas zu ändern: „Sie sind doch nicht der oberste Notar der Republik. Sie sind der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.“

Den Blick vermieden

Olaf Scholz wird dabei von seinem Platz auf der Regierungsbank starr nach vorn schauen. Und nicht zum Redner Merz. So wie auch Merz sich mit den Ellbogen auf den Tisch vor seinem Platz im Parlament aufstützt und zur Seite schaut, während Scholz spricht. Den Blick zu Scholz vermeidet er. Diese beiden Männer, die beide nach der Wahl das Land regieren wollen, ertragen sich kaum noch.

Eine Gewalttat, die das Land erschüttert

Anlass der Regierungserklärung und der Debatte im Parlament ist die Gewalttat von Aschaffenburg, bei der ein psychisch kranker, ausreisepflichtiger Mann aus Afghanistan eine Kindergruppe angriff und dabei einen zweijährigen Jungen sowie einen 41-Jährigen tötete, der schützend eingreifen wollte. Genau eine Woche liegt die Tat nun zurück. Sie hat das Land erschüttert und den Wahlkampf verändert.

Zwei Männer in zwei verschiedenen Welten

Die Weltsicht des Friedrich Merz ist folgende: Es gibt einen Mann im Land – nämlich ihn selbst –, der nach der Gewalttat von Aschaffenburg und anderen Angriffen von Menschen, die in Deutschland Schutz gesucht haben, die Konsequenzen ziehen und die Migrationspolitik verschärfen will. Mit einem faktischen Einreiseverbot auch für diejenigen, die Asyl suchen. Jetzt gelte es zu handeln, und einer sei dazu bereit. So sieht sich Merz selbst. So will er gesehen werden.

In der Welt des Olaf Scholz ist dieser Friedrich Merz nur ein Sprücheklopfer. Einer, der im Wahlkampf Scheinlösungen vorlegt. Dem die mühevolle Kleinarbeit, in der sich politische Veränderungen oft tatsächlich vollziehen, zu anstrengend ist. Der Planet Scholz und der Planet Merz befinden sich auf unterschiedlichen Umlaufbahnen. Da geht nichts zusammen.

Etwas, das so noch nie gegeben hat

Aber das ist nicht alles. Denn es gibt noch den Streit über den Umgang mit der AfD und der „Brandmauer“. Es spricht viel dafür, dass sich Historiker noch mit dieser Debatte und dieser Parlamentswoche beschäftigen werden. Hier passiert etwas, das es zuvor im Bundestag so noch nicht gegeben hat. Merz hat vor Tagen angekündigt, es sei ihm egal, ob die AfD seinem Antrag zustimme und womöglich zur Mehrheit verhelfe. Oder auch dem Zustrombegrenzungsgesetz, das die Union am Freitag im Bundestag zur Abstimmung stellen will.

„Unverzeihlicher Fehler“

Scholz nennt das einen „unverzeihlichen Fehler“. Viele Bürger hätten auf Merz’ Wort vertraut, er werde keine gemeinsame Sache mit der AfD machen. „Aber was sind diese Worte jetzt noch wert?“, fragt Scholz. Der Kanzler warnt, es dürfe keine Mehrheit von CDU/CSU und AfD nach der Wahl geben. Merz, der ansonsten ungewohnt defensiv auftritt, nennt diese Unterstellung „infam“. Und er betont: „Eine richtige Entscheidung wird nicht dadurch falsch, dass die Falschen zustimmen. Sie bleibt richtig.“

Ein Wort, das nicht mehr gilt

Vizekanzler Robert Habeck von den Grünen erinnert an das, was Merz am 13. November im Bundestag gesagt hat. „Wir sollten vereinbaren, mit Ihnen, den Sozialdemokraten und Ihnen, den Grünen, dass wir nur die Entscheidungen auf die Tagesordnung des Plenums setzen, über die wir uns zuvor mit Ihnen von der SPD und den Grünen in der Sache geeinigt haben“, sagte der CDU-Chef damals. „Sodass weder bei der Bestimmung der Tagesordnung noch bei den Abstimmungen hier im Haus in der Sache auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder tatsächlich beigeführte Mehrheit mit denen da zustande kommt.“ Merz’ Finger zeigte zur AfD. Er betonte damals jedes einzelne Wort. Das ist weniger als drei Monate her.

Habeck spricht von einem „Schicksalstag“, er sagt: „Heute steht zum ersten Mal an, ob aus der parlamentarischen Mitte heraus ein Bruch mit der parlamentarischen Mitte passiert.“ Und er sagt: „Sie folgen einer Logik, die Recht brechen will, um Recht zu verändern.“

Rundum-Schlag gegen die Grünen

Auch FDP-Chef Christian Lindner spricht von der Bedeutung des Tages, aber auf eine ganz andere Weise. „Diese Debatte entscheidet nicht über unsere politische Kultur“, sagt er. „Über unsere politische Kultur entscheidet der Umgang mit dem Thema dieser Debatte.“ Dann holt er zum Rundumschlag gegen die Grünen aus. Er wirft ihnen vor, die Asylpolitik blockiert zu haben. „Die Grünen sind damit ein Steigbügelhalter der AfD“, sagt er. Seine Fraktion werde für das Zustrombegrenzungsgesetz stimmen.

„Von uns kopiert“

AfD-Chefin Alice Weidel ist in einer ganz anderen Welt unterwegs. Als sie am Redepult steht, wendet sie sich an den Kanzler und wirft ihm vor, „autoritär“ zu denken. Dann setzt sie an, um mit Unionschef Merz abzurechnen. „Ihren Fünf-Punkte-Plan, den Sie heute vorlegen, haben Sie von uns kopiert“, sagt Weidel in seine Richtung. „Ihre verantwortungslosen und infantilen Manöver werden uns nicht davon abhalten, das Richtige zu tun und jeder vernünftigen Initiative zuzustimmen“, sagt sie.

Weidel rechnet mit Merz ab

Es ist früher Abend, als Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt das Ergebnis der Abstimmungen verkündet: Der zweite Antrag ist abgelehnt – der erste ist angenommen, knapp, mit 348 gegen 345 Stimmen, zehn Enthaltungen. Was sich mit einem Antrag vollzogen hat, dürfte sich am Freitag in größerer Dimension wiederholen. Dann steht die Abstimmung über das Zustrombegrenzungsgesetz an. Es gilt als wahrscheinlich, dass zum ersten Mal ein Gesetz mit Stimmen der AfD beschlossen wird.

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Erstellt:
29. Januar 2025, 18:18 Uhr
Aktualisiert:
29. Januar 2025, 19:14 Uhr

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