Steve Ayan: Seelenzauber
Eine faszinierende Reise durch die Geschichte der Psychologie
Die Psychologie gehört heute fest zum Inventar menschlichen Denkens und Zusammenlebens. Ihre Anfänge waren mitunter obskur, wie jetzt in einem neuen Buch nachzulesen ist.
Von Lukas Jenkner
„Mental Health“ ist seit einigen Jahren schwer in Mode. Gemeint ist damit das emotionale, körperliche und soziale Wohlbefinden des Individuums und alles, was dazu beiträgt: Von einer Arbeitswelt ohne toxische Einflüsse über eine offene Gesprächskultur in sozialen Beziehungen und eine gesunde Sexualität bis hin zu psychotherapeutischen Behandlungen, um seelische Störungen zu behandeln.
Um letztere dreht sich das kürzlich erschienene Buch „Seelenzauber“ des Psychologen und Wissenschaftsjournalisten Steve Ayan, genauer: Um die Entdeckung der Seele durch den Wiener Arzt Sigmund Freud und die daran sich anschließende frühe Geschichte der Psychologie als Profession und Wissenschaft. Die Leserinnen und Leser entdecken in dieser Lektüre, dass Freuds Ideen und Impulse durchaus revolutionär waren, heute aber ebenso respektvoll wie kritisch gewürdigt werden müssen.
Jeder kennt heute die „Freudsche Fehlleistung“
Denn wie so oft, wenn etwas bereits seit 100 Jahren bekannt ist, nehmen es nachfolgende Generationen als selbstverständlich, dass die Seele existiert und „Mental Health“, die mentale Gesundheit, ein erstrebenswertes Gut ist. Als Sigmund Freud sich am Anfang des 20. Jahrhunderts daran machte, die menschliche Seele zu definieren und zu vermessen, war das anders: Die westliche bürgerliche Gesellschaft ächzte größtenteils unter den verklemmten und bigotten Dogmen des viktorianischen Zeitalters. Wer sich so verhaltensauffällig und abweichend der Norm benahm, dass er im Alltag nicht mehr bestehen konnte, landete im schlechtesten Fall im Irrenhaus.
Dass auffälliges soziales Verhalten die Folge seelischer Verletzungen, psychischer Traumata, verdrängter Sexualität und langjähriger negativer Prägungen sein kann, das behandelt und korrigiert werden kann, ist Freuds große Entdeckung. Dass er seine Lehre, von der in der modernen Populärkultur vor allem der „Penisneid“, der „Ödipus-Komplex“ und die unwillkürlichen Verhaltensfehler der „Freudschen Fehlleistung“ haften geblieben sind, zum Maß aller Dinge in der Psychoanalyse erklärt hat, vermutlich sein größter Fehler.
Die Psychoanalyse als geschlossenes System ohne Chance auf Entkommen
Steve Ayan begegnet dem Begründer der Psychoanalyse und seinen Nachfolgern durchaus mit wertschätzenden Respekt, benennt aber kritisch die Defizite der Bewegung. Da wäre zum Beispiel das Kernproblem, dass der Analytiker regelrecht omnipotent und der Analysand letztlich chancenlos ist: Denn wenn der Patient sich in der Gesprächstherapie einer Erkenntnis verweigert, dann nicht, weil er sie für falsch hält, sondern weil er die Wahrheit verdrängt und seinen Widerstand gegen die Erkenntnis nicht überwinden kann. Die Psychoanalyse als geschlossenes System, aus dem es kein Entkommen gibt.
Das haben bereits Freuds Zeitgenossen erkannt und entsprechend moniert, wie Steve Ayan manchmal kritisch, manchmal humorvoll, aber immer lesenswert schildert. Die Geschichte der Psychologie im 20. Jahrhundert ist folglich auch eine Historie kontinuierlichen Streits um die Deutungshoheit über die „Wahrheit der Seele“ und ihrer Heilung, sowie der zwangsläufigen Abspaltungen und Gründungen eigener „Lehren“.
Die Anthroposophie ist bis heute wissenschaftlich unbewiesen
In dieser Galerie finden sich dann allerlei Berühmtheiten wie zum Beispiel „Carl Gustav Jung, der sich um die Fortentwicklung der Psychoanalyse verdient machte, zugleich aber den wissenschaftlichen Beleg seiner teils exotischen Behauptungen schuldig blieb. Ayan erzählt auch von Alfred Adler, der auf der ersten Welle der Begeisterung für die Tiefenpsychologie in den USA große Erfolge feierte.
Andererseits zog die junge Wissenschaft von Anfang teils skurrile Persönlichkeiten an, deren Ideen und Theorien von interessant über harmlos versponnen bis hin zur offensichtlichen Scharlatanerie reichten. Viele davon sind inzwischen vergessen, andere haben vitale Bewegungen gegründet, wie zum Beispiel Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie, deren Wissenschaftlichkeit unbewiesen bleibt.
Vieles fußte am Anfang auf Behauptungen und Glauben
Wie viel zu Beginn der Psychologie auf Behauptung und Glaube sowie einzelnen Fallschilderungen beruhte, aus denen Erfinder und Koryphäen der neuen Wissenschaft empirisch unbewiesene Allgemeinschlüsse zogen, das nachzulesen ist bisweilen ernüchternd.
Allerdings hat das Fach ja inzwischen seine Fortschritte gemacht und bewiesen, dass die angewandte Psychotherapie den Menschen hilft. Der bahnbrechende Wandel im Denken, den Sigmund Freud und seine Nachfolger angestoßen haben, bleibt uns erhalten. Die Scharlatane allerdings auch.
Steve Ayan: Seelenzauber – Aus Wien in die Welt. Das Jahrhundert der Psychologie. dtv Verlag München 2024. Gebunden mit Schutzumschlag, 398 Seiten, 26 Euro.