Eine Kindheit ohne Liebe

Ehemalige Heimkinder aus Ludwigsburg-Hoheneck klagen an: Sie berichten von Gewalt, Lieblosigkeit und autoritären Strukturen

Corinna Hofmann hat 17 Jahre lang im Kinderheim St. Josef in Ludwigsburg-Hoheneck gelebt. Statt Zuwendung erhielt sie Schläge und Demütigungen. Jetzt will sie nicht mehr schweigen.

Ludwigsburg Es ist ein sonniger Tag, Corinna Hofmann steht am Nürnberger Hauptbahnhof mit ihrer gelben Post-Mitarbeiterjacke. Bald muss sie zur Arbeit, Briefe sortieren. Sie steckt sich eine Zigarette an. „Ich habe mit elf Jahren angefangen zu rauchen, das war mein einziges Stück Freiheit“, sagt die 51-Jährige. Mit wachen Augen schaut sie durch ihre dunkelrandige Brille, sie wirkt stark und selbstbewusst. Und doch durchzieht ein Anflug von Traurigkeit ihr Gesicht.

„Ich wache immer noch nachts auf und habe Angst“, sagt sie unvermittelt. Dann sieht sie die Bilder ihrer Kindheit wieder, die sie im katholischen Heim St. Josef in Ludwigsburg-Hoheneck verbracht hat. Bilder einer Ordensschwester, die mit einem Gürtel auf einen kleinen Jungen einschlägt. Oder sie sieht sich selbst, wie sie mit acht Jahren etwas gestohlen hatte. „Ich wurde in ein Zimmer gebracht und so brutal verprügelt, dass ich eine Woche nicht aufstehen konnte“, erzählt sie und zieht an ihrer Zigarette, als könnte der Rauch die Erinnerung tilgen.

Hofmann gehört zu einer Gruppe von ehemaligen Heimkindern, die in dem Haus gelebt haben, das 1992 geschlossen wurde. Jahrzehnte lang haben sie geschwiegen – aus Angst davor, als Lügner dazustehen; vielleicht auch, weil sie sich selbst die Schuld gegeben haben, oder weil sie die Erinnerung einfach nicht mehr ertragen konnten.

Das Josefsheim residierte auf dem Gelände des Hohenecker Klosters, es wurde 1930 von einem Frauenorden gegründet, den Karmelitinnen vom göttlichen Herzen Jesu – ein eigenständiger Orden, der direkt der obersten Behörde des Vatikans, der Glaubenskongregation, unterstellt ist. Die Stifterin Anna Maria Tauscher erhob 1891 den Anspruch, Waisenkinder von der Straße zu holen. In Hoheneck ist eines von vier Klöstern des Ordens in Deutschland, der Hauptsitz liegt bei Maastricht in den Niederlanden.

Bis zu vier Gruppen und eine Säuglingsstation hatte das Heim, die Schwestern führten dieses mit strenger Hand. Manche lebten durchaus das Ideal der Barmherzigkeit. „Schwester Mathilde war wie eine Mutter für uns“, erinnert sich Corinna Hofmann. Doch als diese die Einrichtung verließ, durchlebte sie ein Martyrium. Fast noch schlimmer als die Gewalt gegen sich selbst empfand sie die gegen andere, wehrlose Kinder, etwa gegen ein Mädchen, das mit sechs Jahren noch Bettnässerin war. „Zur Strafe wurde es mit der Hand auf den nackten Po geschlagen“, sagt die 51-Jährige.

Und doch wiegt noch etwas schwerer als allgegenwärtige Gewalt und drakonische Strafen für kleinste Vergehen: die erfahrene Lieblosigkeit. „Die Regeln des Ordens schrieben emotionale Distanz vor“, erzählt Hofmann, während ihr Blick auf spielende Kinder in der Bahnhofshalle fällt. Sie sieht, wie eine Mutter ihr Söhnchen mit der Hand über den Kopf streicht. Einen Moment verweilt sie bei dieser Szene. „So etwas gab es für uns nicht“, sagt sie dann.

Strenge, Disziplin, Gehorsam, keine unkeuschen Gedanken – das waren die Leitlinien. Mitgefühl habe sie nie erhalten. Dabei hätte sie dieses so dringend gebraucht. Das Leben von Corinna Hofmann begann 1967 in völlig zerrütteten Familienverhältnissen. „Meiner Mutter war das Kneipenleben immer wichtiger als ihre Familie“, erzählt sie. Vier Wochen nach ihrer Geburt kam Hofmann ins Heim. Später, als erwachsene Frau, hat sie einmal ihre Mutter gefragt: „Warum hast du mich weggegeben?“ Die Antwort, wie sie Hofmann wiedergibt, ist monströs.

„Du bist ein undankbarer Fratz“, soll sie gesagt haben. Die Gesichtszüge der 51-Jährigen versteinern, wenn sie mit einem ebenso monströsen Satz antwortet: „Meine Mutter ist zu früh gestorben, sie hätte noch länger leiden sollen.“ Sieben weitere Geschwister hat sie, zwei wurden zur Adoption freigegeben, drei kamen auch nach Hoheneck.

Obwohl sie vom Elternhaus keine Liebe erhielt, saß Hofmann an Ostern und Weihnachten auf dem Fensterbrett und wartete, wie die anderen abgeholt zu werden. Doch es kam niemand. So war das Korsett voll strenger Regeln und Verbote innerhalb der Klostermauern ihre Welt. Einmal in der Woche gab es Lebertran, alle Kinder mussten in Reihe stehen und die Köpfe in den Nacken legen. Den Fischgeschmack spürt sie heute noch manchmal im Mund – so wie sie einen Satz der Schwestern im Ohr hat: „Du wirst wie deine Mutter, du landest in der Gosse.“

Mit 15 Jahren ist sie zum ersten Mal abgehauen – und wurde von der Polizei im Ludwigsburger Schlosspark aufgegriffen. „Der Polizist hat damals gesagt: ‚Ich verstehe euch, das ist ein Jugendknast.‘“ Nach dem zweiten Fluchtversuch kam sie in eine betreute Wohngemeinschaft für Teenager.

Sie rauchte, trank Alkohol, ging aus. „Mit so viel Freiheit konnte ich nicht umgehen“, sagt sie. Die junge Frau ließ sich mit den ­falschen Leuten ein, ihr erster Freund kam wegen eines Raubüberfalls ins Gefängnis. Ihr zweiter Lebensgefährte war Alkoholiker und prügelte. Sie floh mit ihren drei ­Töchtern in ein Frauenhaus. Als sie ins Auto stiegen, weinte ein Kind unentwegt. „Ich ­habe gefragt: Was hast du?“, erzählt ­Hofmann. „Da sagte sie: Ich habe Angst, dass ich jetzt auch ins Heim muss.“ Nun steht die 51-Jährige am Bahnhof und zündet sich die nächste Zigarette an. Ihre drei Kinder sind zwischen 29 und 34 Jahre alt und geben ihrem Leben endlich Halt. Für sie hat sie jahrelang Doppelschichten gearbeitet und so ihren Töchtern eine glückliche Kindheit ermöglicht.

Auch andere Heimkinder aus Hoheneck suchen jetzt die Öffentlichkeit. Manche erzählen von gutmütigen Schwestern und Fürsorge, von Förderung und Fröhlichkeit. Vielleicht waren sie weniger aufmüpfig, konnten Schläge besser wegstecken, vielleicht hatten sie Glück oder konnten sich besser anpassen. Es gibt viele Geschichten aus Hoheneck, nicht alle sind so düster wie die von Corinna Hofmann. Doch sie ist kein Einzelfall; eine große Gruppe von Ex-Heimkindern bestätigt ihre Erzählungen.

Als der Ludwigsburger Dekan Alexander König erstmals von dieser Zeitung mit den Vorwürfen konfrontiert wurde, schaltete er umgehend Aufklärungsstellen der Diözese und der Caritas ein. Am 22. März gibt es in Hoheneck eine Krisensitzung. Die Hohenecker Oberin der Karmelitinnen, Schwester Edith Riedle, hat sich öffentlich entschuldigt: „Wir wussten nichts von den Vorwürfen, aber es tut uns leid.“ Die Kirche will aufklären, sucht nach Unterlagen und befragt die damals zuständigen Schwestern. Die Heimkinder fordern aber eine unabhängige Aufklärung außerhalb der Kirche.

Unrecht gab es in vielen Kinderheimen. „Das Grundgesetz galt in vielen Einrichtungen nicht“, sagt Ulrike Zöller, Leiterin des Beirats der inzwischen aufgelösten Anlaufstelle für Heimkinder in Stuttgart. Doch in Hoheneck kamen Sittenstrenge und autoritäre Strukturen eines Ordens hinzu, der niemandem Rechenschaft schuldig war.

Corinna Hofmann drückt die letzte Zigarette aus, bevor sie zur Arbeit geht. Sie wirkt erleichtert, ihre Lebensgeschichte endlich erzählt zu haben. Eine Frage will sie noch loswerden: „Warum mussten wir das ertragen? Wir waren doch wehrlose Kinder. Wir hätten Liebe gebraucht, aber ihr habt uns geschlagen und verachtet.“

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Erstellt:
13. März 2019, 03:04 Uhr

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