Eine Zäsur, aber keine Revolution
Der Bundestrainer kündigt nach dem Karriereende von Toni Kroos nur moderate Änderungen im Kader an. Doch es geht um große Namen.
Von Carlos Ubina
Stuttgart - Zeit seines Fußballerlebens ist Toni Kroos leichten Schrittes über den Platz gelaufen. Das lag natürlich an seiner Technik, seiner Übersicht, seinem Spielverständnis. Als königlich ist sein Wirken oft bezeichnet worden, weil der Mittelfeldspieler über Jahre hinweg die Aktionen von Real Madrid geprägt hat. Der 34-Jährige war auch zuletzt der Herrscher im Zentrum der deutschen Nationalmannschaft. Geachtet von allen und geliebt von den Fans.
Noch nie bei einem Turnier war das Trikot mit der Nummer acht und dem Kroos-Schriftzug auf dem Rücken so begehrt wie bei dieser EM. An jedem Spielort war es massenweise zu sehen. Ein Zeichen der Wertschätzung. Als sei es ein Statement, es zu tragen. In Stuttgart untermalt von den „Toni“-Rufen Tausender Fans. Noch nie hat man Kroos sich derart über den Rasen schleppen sehen wie im nun letzten Spiel seiner Karriere. Von Krämpfen geschüttelt, demonstrierte der Ästhet eine ungeahnte Leidensfähigkeit. Denn es sollte gegen Spanien ja noch nicht Schluss sein. Er stemmte sich dagegen.
Doch nach den Toren von Dani Olmo (52.) und Florian Wirtz (89.) kam in der letzten Minute der Verlängerung noch einmal der Spanier Mikel Merino mit dem Kopf an den Ball – 1:2 und der Gedanke an das Elfmeterschießen platzte wie der Titeltraum. „Dafür hätte es noch gereicht“, sagt Kroos, „aber nicht mehr für so viele Zweikämpfe.“
Schmerzhaft verlief der Abschied demnach, doch Kroos ist mit sich im Reinen, da er den Zeitpunkt seines Renteneintritts selbst gewählt hat. „Mir hat es hier großen Spaß gemacht. Ich bin sehr zufrieden“, sagt der Spielmacher, der erst im vergangenen März nach mehr als zwei Jahren in die Nationalmannschaft zurückgekehrt war. Extra für die EM. Nach 114 Länderspielen (17 Tore/22 Vorlagen) ist nun Schluss und sein 35. Titel ist ihm verwehrt geblieben. Dennoch glaubt Kroos an die Einheit, die er jetzt zurücklässt.
Kurz vor elf Uhr am Samstagvormittag ist Kroos in einen schwarzen VW-Bus gestiegen, um das Mannschaftsquartier in Herzogenaurach zu verlassen. Die Lücke, die er hinterlässt, ist groß. „Aktuell einen Spieler zu finden, der ihn eins zu eins ersetzt, ist schwer, sonst wäre er nicht einer der größten deutschen Fußballer – wenn das so easy wäre, dann wäre auch die Wertigkeit für Toni deutlich zu gering“, sagt Julian Nagelsmann.
Der Bundestrainer hat dennoch Kandidaten im Kopf. Pascal Groß (33) zum Beispiel, der schon während des Heimturniers den Schattenmann für Kroos gab. Dazu kommen die deutlich jüngeren Angelo Stiller (23) vom VfB Stuttgart und Aleksandar Pavlovic (20) vom FC Bayern München. Sie ermöglichen mit ihrer Spielweise einen ähnlichen Stil und machen eine „März-Revolution“, wie sie Nagelsmann vor der Europameisterschaft angezettelt hatte, unnötig.
„Wir werden die Nationalmannschaft nicht neu zusammenwürfeln“, sagt der Bundestrainer mit Blick auf die nächsten Nominierungen. Im September stehen die ersten Partien in der Nations League gegen Ungarn und in den Niederlanden an. Das Grundgerüst der EM-Gruppe soll dabei bestehen bleiben. Wenngleich es nach der Niederlage gegen Spanien schon so war, dass auch Manuel Neuer (38) und Thomas Müller (34) zu ihren Plänen und Perspektiven in der Nationalmannschaft befragt wurden. Mit Kroos sind die zwei Bayern-Profis die einzig verbliebenen Weltmeister von 2014. In Ilkay Gündogan gibt es dazu einen Kapitän, der bereits 33 Jahre alt ist und den Titelgewinn vor zehn Jahren nur aufgrund einer Verletzung verpasst hat. Nagelsmann rechnet dennoch weiter mit Gündogan. „Klar freue ich mich, wenn er weitermacht. Stand jetzt gehe ich auch davon aus“, sagt der Bundestrainer.
Ungewiss ist die Zukunft in der Nationalmannschaft für Neuer und Müller. „Wir haben jetzt noch keine Entscheidung, in welche Richtung es für sie weitergeht, getroffen“, sagt Nagelsmann. Müller will schnell mit ihm das Gespräch suchen und deutete bereits an, dass auch er sein letztes Länderspiel bestritten haben könnte. Zurücktreten will Müller jedoch nicht, sondern kommen, wenn er gerufen wird und es akzeptieren, wenn er nicht mehr gebraucht wird. Neuer benötigt dagegen mehr Zeit, sich Gedanken zu machen. „Das heißt nicht heute oder morgen. Das kann ein halbes Jahr oder länger dauern“, sagt der Torhüter.