Erlacher Höhe warnt: Die Energiekrise befeuert Existenzängste
Die steigenden Preise für Strom und Gas genauso wie für Lebensmittel haben für Menschen mit geringem Einkommen gravierende Folgen. Betroffene erzählen von ihrem Alltag, die Erlacher Höhe fordert einen gezielteren Einsatz von staatlichen Hilfen.
Von Lorena Greppo
Rems-Murr. Martina Beyrich (Name geändert) sieht schwierige Zeiten auf sich zukommen. Die alleinerziehende Mutter vierer Kinder wird aktuell von der Abteilung Ambulante Hilfen Rems-Murr der Erlacher Höhe betreut. Beinahe täglich bekommt sie Post vom Jobcenter, ohne Sozialarbeiterin Petra Brinckmann käme sie damit kaum zurecht. Und die ihr zustehenden Leistungen, sagt Beyrich, reichen hinten und vorne nicht. Vor allem deshalb nicht, weil nun durch Inflation und rasant steigende Energiepreise immer mehr Kosten auf sie zukommen. „Ich habe Existenzängste“, sagt sie und gibt ein Beispiel dafür, wie schnell es für sie finanziell brenzlig wird: Der Bescheid über die ausstehende Stromnachzahlung über 400 Euro flatterte jüngst ins Haus. „Das Geld habe ich nicht“, macht sie klar. Etwas auf die hohe Kante zu legen, war ihr nicht möglich. Ihre Möglichkeiten seien nun begrenzt, sagt Beyrich: Entweder sie leiht sich Geld bei Bekannten oder sie geht betteln. Auswärts essen gehen ist für sie ein Luxus, den sie sich schon lang nicht mehr leisten kann. Das letzte Mal für eine Woche im Urlaub war Beyrich 2014 – und das auch nur, weil sie eingeladen wurde.
In ihrer Situation ist Martina Beyrich kein Einzelfall, schildert Wolfgang Sartorius, der Vorstand der Erlacher Höhe. Die Preissteigerungen treffen Menschen mit wenig Geld am gravierendsten, weiß er. „Ich spüre in den Gesprächen große Verunsicherung“, so Sartorius. Und das betreffe nicht nur Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, sondern auch viele Rentner. Zumal die Heizperiode vor der Tür steht und das kann schnell richtig teuer werden – für viele zu teuer. Wenn ihnen nicht geholfen werde, fehle es bald an elementarer Versorgung. „Es darf nicht sein, dass man vor der Entscheidung steht, entweder zu heizen oder etwas im Kühlschrank zu haben“, fordert Sartorius nachdrücklich.
Bislang meistens geschafft, am Ende des Monats 50 Euro zur Seite zu legen.
Das muss auch Frank Bottalico schon feststellen. Der 50-Jährige ist zwar sozialversicherungspflichtig angestellt, zählt aber dennoch zu den Geringverdienern. Bislang, erzählt er, habe er es meistens noch geschafft, am Ende des Monats 50 Euro beiseitezulegen. „Das geht jetzt nicht mehr.“ Mittlerweile studiert er vor dem Einkaufen intensiv, was gerade in welchem Markt im Angebot ist. Fleisch gibt es beispielsweise nur am Wochenende. „Ich stelle keine großen Ansprüche“, sagt Bottalico. Von seinem Energieversorger warte er allerdings noch auf den Bescheid über die Preiserhöhung. „Ich kann nicht abschätzen, wie viel mehr es wird“, sagt er. „Wenn der Bescheid kommt, gehe ich zu Herrn Belz.“
Die Sozialkaufhäuser der Erlacher Höhe werden überrannt.
Michael Belz ist der Abteilungsleitung der Ambulanten Hilfen Rems-Murr. Wenn gefordert wird, die steigenden Preise aus eigenen Rücklagen aufzubringen, fragt er sich: „Wo sollen die Leute es sich rausschneiden?“ Dass die Armutsentwicklung problematisch ist, zeige sich schon seit einiger Zeit sehr deutlich, denn die Sozialkaufhäuser der Erlacher Höhe werden überrannt. Inzwischen sei das nicht mehr nur im Bezug auf Lebensmittel so, „wir merken es auch schon bei der Kleidung“. Sartorius und Belz schließen sich der Forderung der Diakonie Deutschland an: Der Regelsatz für den laufenden Lebensunterhalt müsse dringend erhöht werden, um mindestens 100 Euro im Monat. „Das ist das Mindeste, was wirklich notwendig ist“, fügt Belz an. Die bisherigen Einmalzahlungen reichten nicht, so Sartorius. Er habe sie eher als Almosen empfunden. Auch kritisiert er die Entlastungspakete der Regierung. „Ich sehe es kritisch, dass die Gelder per Gießkannenprinzip verteilt werden.“ Vielmehr müsse die Regierung die Hilfen auf diejenigen konzentrieren, die diese auch wirklich brauchen. Er macht deutlich: „Herr Sartorius und Herr Belz brauchen kein 9-Euro-Ticket. Frau Beyrich hingegen bräuchte es auch im September noch.“
Die Armutsentwicklung in Deutschland sei auch ohne die Energiekrise bereits problematisch und werde durch die aktuellen Entwicklungen nur noch verschärft. Was ist zu tun, wenn es hart auf hart kommt und jemand die Rechnungen tatsächlich nicht mehr begleichen kann oder womöglich gar der Strom abgestellt wird? Landet so jemand auf der Straße? „Hoffentlich kommt diese Person vorher zur Erlacher Höhe“, sagt Sartorius. Er und Michael Belz gehen davon aus, dass auch die Schuldnerberatung künftig ein großes Thema werden wird.
Das Ziel von 400000 Wohneinheiten pro Jahr ist kaum umsetzbar.
Genauso sei die Wohnungsnot ein gravierendes Problem. „Wir brauchen dringend mehr bezahlbaren Wohnraum“, fordert der Vorstand der Erlacher Höhe. Das Ziel von Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) von 400000 Wohneinheiten im Jahr sieht er kaum noch als umsetzbar an. „Die Zahl der Baugenehmigungen und Fertigstellungen ist gesunken.“ Hoffnungen setzt Sartorius hingegen in das geplante Bürgergeld, welches Hartz IV ersetzen soll. „Vom Ansatz her ist das richtig“, sagt Wolfgang Sartorius. Allerdings ist derzeit noch nicht bekannt, wie hoch die Sozialleistung ausfallen wird. Die FDP hatte sich mehrfach dagegen ausgesprochen, die Grundsicherung deutlich zu erhöhen, was Sartorius aber als dringend notwendig erachtet. Der Regelsatz von 449 Euro reiche nicht aus – vor allem nicht, wenn steigende Kosten für Lebensmittel und Strom anstehen. Das kann Martina Beyrich bestätigen.
Armutsgefährdung Mit 1148 Euro wurde im vergangenen Jahr die Armutsgefährdungsschwelle beziffert. Zieht man den Hartz-IV-Regelsatz von 2021 (446 Euro ohne Kosten der Unterkunft und Heizung) zum Vergleich heran, so deckte dieser gerade einmal 46,25 Prozent dessen ab. Die absolute und die rechnerische Lücke zwischen dem Regelsatz und dem Schwellenwert sind nach Angaben der Erlacher Höhe gestiegen. Um das Niveau von 2006 zu halten, hätte der Regelsatz 531 Euro betragen müssen.
Geringverdiener Durch die aktuellen Preissteigerungen sind auch Menschen mit geringem Einkommen stark betroffen. Geringverdiener ist 2022, wer mit einer Vollzeitstelle (40 Stunden) weniger als 2284 Euro brutto pro Monat verdient – das ist weniger als zwei Drittel des mittleren monatlichen Bruttogehalts aller sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten. Laut einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts trifft das in Deutschland auf fast jede fünfte Person zu.
Wohnungsnot Am Stichtag des 31. Januar 2022 wurden 178000 Menschen in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe gezählt. Positiv hebt Wolfgang Sartorius hervor, dass die Zahl untergebrachter wohnungsloser Menschen erstmals erfasst wurde. Er kritisiert jedoch: „Nicht gezählt wurden dagegen die Menschen, die auf der Straße leben oder vorübergehend bei Freunden untergekommen sind.“ Die tatsächliche Zahl der Wohnungslosen in Deutschland sei daher wohl erheblich höher. Um zielgenau helfen zu können, sagt der Vorstand der Erlacher Höhe, müssten daher realistische Daten erhoben werden. Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP ist die Erstellung eines Aktionsplans für die Überwindung von Obdach- und Wohnungslosigkeit bis 2030 festgehalten.