Erkenntnisse statt Klischees

Heidelberger Wissenschaftler erforschen Ausgrenzung von Sinti und Roma über die Jahrhunderte

Forschung -

Stuttgart Seit mehr als 600 Jahren leben Sinti in Deutschland, seit über 150 Jahren Roma. Doch über ihre Geschichte ist nicht sehr viel bekannt – dafür gibt es umso mehr Klischees über die Minderheit, die als sogenannte Zigeuner ausgegrenzt wurde. Bis auf einige Einzelstudien lägen kaum wissenschaftliche Arbeiten vor, sagt derHistoriker Edgar Wolfrum, Leiter der noch jungen Forschungsstelle Antiziganismusan der Universität Heidelberg. Im Sommer 2017 haben die Hochschule und das Land Baden-Württemberg das bundesweit erste Wissenschaftszentrum mit diesem Schwerpunkt eröffnet. Es solle ein Zeichen setzen gegen das Schweigen und für die Aufklärung, sagt Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne): „Damit wird das Land auch seiner historischen Verpflichtung gegenüber Sinti und Roma gerecht.“

Aufgabe der neuen Einrichtung ist es, Geschichte, Ursachen und Wirkung der jahrhundertelangen Ausgrenzung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa zu erforschen. Seit dem späten 14. Jahrhundert ist ihre Anwesenheit in Ungarn belegt, seit dem frühen 15. Jahrhundert in Mitteleuropa. Anfangs stellten Kaiser, Landesherren und Städte den Neuankömmlingen Schutzbriefe aus, damit sie sich frei im Reich bewegen konnten. Wenige Jahrzehnte später wurden sie bei Reichstagen in Lindau 1496 und Freiburg 1498 für vogelfrei erklärt.

Zunächst befassen sich die Wissenschaftler mit dem 20. Jahrhundert, der Zeit der schwersten Verfolgung. Die Nationalsozialisten ermordeten Hunderttausende Sinti und Romain den Konzentrationslagern. Rassenforscher hatten sie zuvor wie die Juden zu „Fremdrassigen“ erklärt, die aus der Volksgemeinschaft auszuschließen seien.

„Der Völkermord an Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz, mit dem gleichen Willenzur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie an den Juden“, sagte der damalige Bundes­präsident Roman Herzog 1997.

Mit dem Ende des Nationalsozialismus war die Diskriminierung nicht vorbei. In der Landfahrerzentrale in München hätten nach 1945 teils dieselben Personen gearbeitet, die die Sinti und Roma während der Nazizeit stigmatisiert hatten, sagt Wolfrum. Das belegten Akten in denInnenministerien der Länder, die sich mit der Zentrale in München austauschten. Die Überlebenden wurden weiter als Asoziale und Kriminelle angesehen, streng überwacht und blieben ausgegrenzt. Erst 1995 wurden sie als na­tionale Minderheit anerkannt – ein Erfolg der Bürgerrechtsbewegung um Romani ­Rose, heute Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.

Kinder von KZ-Überlebenden hatten 1979 den Verband Deutscher Sinti gegründet, der die Anerkennung des Völkermordes an Sinti und Roma, die Beendigung der ­polizeilichen Sondererfassung, dieAnerkennung als nationale Minderheitund politische Beteiligung forderte.

Während aus dem 20. Jahrhundert viele Zeugnisse vorliegen – vor allem Polizeiakten –, ist es für frühere Jahrhunderte schwieriger. Um die weit verstreuten Dokumente zugänglich zu machen, soll in Heidelberg eine Sammlung aufgebaut werden. Das Land finanziert mit 220 000 Euro pro Jahr zwei Stellen für Wissenschaftler sowie zwei Stipendien für Doktoranden. Weitere Stipendien werden über Drittmittel finanziert.

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Erstellt:
15. April 2019, 03:16 Uhr

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