NS-Verbrechen: Bundesweit Ermittlungen gegen Verdächtige

dpa Ludwigsburg/Weiden. 76 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges arbeiten die Ermittlungsbehörden in Deutschland weiter an der Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Auch gegen einen Verdächtigen aus Bayern wird ermittelt.

Eine Figur der blinden Justitia. Foto: Sonja Wurtscheid/dpa/Symbolbild

Eine Figur der blinden Justitia. Foto: Sonja Wurtscheid/dpa/Symbolbild

Den letzten noch lebenden KZ-Wachleuten soll der Prozess gemacht werden. 17 Verdächtige stehen zurzeit im Fokus der Justizbehörden. Es geht um den Vorwurf der Beihilfe zum Mord, wie Oberstaatsanwalt Thomas Will sagt. Er leitet die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Auch gegen einen früheren Wachmann aus dem KZ Flossenbürg in der Oberpfalz wird ermittelt.

Im Herbst sollen die Prozesse gegen zwei ehemalige KZ-Mitarbeiter beginnen: Vor dem Landgericht Itzehoe in Schleswig-Holstein ist eine 96 Jahre alte Frau angeklagt, die als Sekretärin im KZ Stutthof tätig war. Ein fast 101-jähriger früherer Wachmann aus dem KZ Sachsenhausen wird sich wohl vor dem Landgericht Neuruppin in Brandenburg verantworten müssen.

Darüber hinaus würden neun Verdachtsfälle von den Staatsanwaltschaften Erfurt, Weiden, Hamburg und Neuruppin sowie von der Generalstaatsanwaltschaft Celle bearbeitet, sagt Will. Die Zentrale Stelle führe zudem Vorermittlungen in sechs weiteren Fällen.

Die Verdächtigen waren in der Endphase des Zweiten Weltkrieges überwiegend zur Bewachung in Konzentrationslagern eingesetzt. Sie sind 95 Jahre alt und älter - das Alter gehört zu den wichtigsten Faktoren bei den Ermittlungen. Die Behörden stünden immer wieder vor der Frage der Verhandlungsfähigkeit, sagt Will. In einem vor dem Landgericht Wuppertal angeklagten Fall sei es genau deswegen nicht zum Prozess gekommen.

Im Fall des hochbetagten Mannes in Neuruppin sei beispielsweise festgelegt worden, dass ein Verhandlungstag längstens zweieinhalb Stunden dauern dürfe, sagte ein Sprecher des Landgerichtes. Immer wieder müssen Ermittlungen auch eingestellt werden, weil Verdächtige zwischenzeitlich gestorben sind, zuletzt in einem Fall in Erfurt.

Die Bewachung der Häftlinge in einem Kriegsgefangenenlager oder KZ mache eine Anklage wegen Mord-Beihilfe möglich, erklärt Will. Maßgeblicher Impuls hierfür sei der Fall John Demjanjuk gewesen. Der einstige NS-Befehlsempfänger war 2011 im Alter von 91 Jahren in München wegen Beihilfe zu Mord in mehr als 28.000 Fällen zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Demjanjuk sei als Wachmann Teil der Vernichtungsmaschinerie gewesen, befanden die Richter.

In Prozessen gegen NS-Verbrecher in den 1960er oder 70er Jahren seien einstige Wachleute zwar als Zeugen vernommen worden, hätten aber nicht auf der Anklagebank gesessen, sagt Will. Damals hätten sich Ermittlungen auf diejenigen konzentriert, die konkret an Tötungen beteiligt waren.

Auch früher habe es schon Versuche gegeben, „den Kosmos der Helfer und Helfershelfer“ vor Gericht zu bringen, was aber nicht gelungen sei. Außerdem: „Hätte man als Zeugen geladene Wachmänner als potenzielle Beschuldigte belehrt, hätten sie vermutlich nichts mehr gesagt.“ Der Fall Demjanjuk brachte eine Wende: Seither seien drei weitere Männer verurteilt worden - zuletzt im vergangenen Jahr -, weil sie durch ihren Wachdienst Beihilfe geleistet hätten, sagt Will.

Entscheidend sei bei Ermittlungen wegen Beihilfe zum Mord, dass für die Wachleute erkennbar war, dass systematisch Morde begangen wurden - beziehungsweise dass die Häftlinge in einem Konzentrationslager oder Kriegsgefangenenlager unterversorgt und dem Tode geweiht waren.

Und so wie Mord nach deutschem Recht seit 1979 nie verjährt, verjährt auch die Mord-Beihilfe nicht, sofern sie sich auf die Mordmerkmale der Heimtücke oder der Grausamkeit bezieht, wie Thomas Will erläutert. Tod durch Vergasen oder durch Verhungern und Erschöpfung fällt nach juristischen Maßstäben unter Grausamkeit, Erschießen eines arglosen Menschen von hinten beispielsweise gilt als heimtückisch.

Die Recherchen der Ermittler sind aufwendig. Im Fall eines Verdächtigen, der im KZ Flossenbürg tätig war, fand sich die entscheidende Spur im tschechischen Militärarchiv in Prag. Dieses hatte Pässe ehemaliger SS-Angehöriger ins Internet gestellt, darunter der Ausweis des 96-Jährigen, der heute in Unterfranken lebt.

Eine weitere wichtige Quelle sei das Militärarchiv in Moskau, sagt Will. Aber auch in KZ-Gedenkstätten fänden sich aufschlussreiche Unterlagen. Zudem seien viele Wachleute, die früher als Zeugen vernommen worden waren, bereits in der umfangreichen Kartei der Zentralen Stelle zu finden. Immer wieder tauchen auch bislang unbekannte, hilfreiche Dokumente auf: Jüngst habe etwa ein Historiker bei Recherchen eine Liste mit Namen von Personal aus einem Kriegsgefangenenlager aufgetan und nach Ludwigsburg weitergeleitet.

Viele der früheren KZ-Mitarbeiter hätten ihre Tätigkeit im Laufe der Jahre wohl verdrängt, sagt Will. „Es wird einfach nicht darüber gesprochen.“ Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Neuruppin pflichtet dem bei und ergänzt, wirklich reumütig erlebt habe er Verdächtige bislang nicht. Sie gäben meist an, „keine andere Wahl“ gehabt zu haben. Ein Argument, das vor Gericht oft nicht standhalte.

© dpa-infocom, dpa:210804-99-697297/3

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Erstellt:
4. August 2021, 06:04 Uhr

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