Ukraine-Krisengipfel in Brüssel
Europa steht am Wendepunkt
Nach dem vorläufigen Stopp der US-Militärhilfen für die Ukraine haben zahlreiche EU-Staats- und Regierungschefs beim Gipfel in Brüssel Zuspruch für eine Wiederaufrüstung Europas geäußert.

© AFP/Nicolas Tucat
Antonio Costa (li.), Präsident des Europäischen Rates, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Gespräch
Von Knut Krohn
Gleich zu Beginn des Ukraine-Krisengipfels macht Ursula von der Leyen deutlich, um was es geht. Die EU-Kommissionspräsidentin spricht am Donnerstag in Brüssel von einem „Wendepunkt“ für die Sicherheit Europas und der Ukraine. Die Lage sei brandgefährlich. Neben ihr steht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und nickt. „Sie haben ein starkes Signal an das ukrainische Volk, an die ukrainischen Krieger, an die Zivilbevölkerung, an alle unsere Familien gesendet“, sagte er. „Wir sind sehr dankbar, dass wir nicht allein sind.“
Der Gast weiß die Hilfe der EU zu schätzen, ist sich aber auch bewusst, dass sie nicht ganz selbstlos ist. Es gehe bei der Unterstützung Kiews auch darum, „sich selbst zu schützen, sich selbst zu verteidigen“, sagt Ursula von der Leyen. Sie habe den Staats- und Regierungschefs deshalb einen Wiederaufrüstungsplan für Europa vorgelegt. Damit will die Kommissionschefin bis zu 800 Milliarden Euro mobilisieren.
Nachdem die USA die Ukraine offensichtlich fallenlassen wollen und immer lauter den Fortbestand der Nato infrage stellen, ist bei einigen der 27 Staats- und Regierungschefs noch immer eine gewisse Ratlosigkeit zu erkennen. Die meisten räumen allerdings ein, dass die Europäer angesichts der aktuellen Entwicklung massiv und schnell aufrüsten müssen. Westliche Geheimdienste gehen davon aus, dass Russland spätestens in einigen Jahren in der Lage sein dürfte, einen Überfall etwa auf die baltischen Staaten zu wagen. Diese Gefahr ist durch den Einzug Donald Trumps in Weiße Haus dramatisch gestiegen, denn es ist ungewiss, ob die USA den Europäern auch in Zukunft Schutz unter ihrem atomaren Schutzschirm gewähren werden.
Militärische Fähigkeiten der EU-Staaten ausbauen
Aus diesem Grund hat Ursula von der Leyen kurz vor dem Gipfel in Brüssel den Plan „ReArm Europe“ (etwa: Europa wieder aufrüsten) vorgestellt. So sollen die Staaten zum Beispiel EU-Darlehen aufnehmen können, etwa für die Anschaffung von Luft- und Raketenabwehr, Artilleriesystemen und Drohnen. Weiter schlägt die Kommission vor, dass die einzelnen Mitgliedstaaten bei Verteidigungsausgaben eine Sonderregel zu den EU-Schuldenregeln für einen Zeitraum von vier Jahren nutzen können. Damit könnten sie dann für die Aufrüstung neue Kredite aufnehmen, ohne ein EU-Defizitverfahren zu riskieren.
Das alles soll helfen, die militärischen Fähigkeiten der EU-Staaten erheblich auszubauen. Derzeit sind viele Streitkräfte in einem eher schlechten Zustand, weil in den Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges Verteidigungsausgaben drastisch heruntergefahren worden waren.
Atomarer Schutzschirm Frankreichs für ganz Europa?
Als Reaktion auf die Drohungen von US-Präsident Donald Trump hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Mittwoch in einer Rede an die Nation sogar angekündigt, den atomaren Schutzschirm Frankreichs möglicherweise auf ganz Europa auszudehnen. Er hatte dabei an eine Aussage des CDU-Vorsitzenden und designierten Bundeskanzlers Friedrich Merz angeknüpft. Der hatte kurz vor der Bundestagswahl gesagt, man müsse angesichts der Abkehr der USA mit den europäischen Atommächten Großbritannien und Frankreich über nukleare Teilhabe oder zumindest nukleare Sicherheit reden.
Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich am Donnerstag am Rande des Gipfels allerdings zurückhaltend. Trotz des radikalen Kurswechsels der US-Außenpolitik verwies der SPD-Politiker auf das bestehende Nato-System der nuklearen Abschreckung, das auf den Atomwaffen der USA basiert und an dem Deutschland beteiligt ist. Das sollte „nicht aufgegeben werden“. Die USA haben Expertenschätzungen zufolge etwa 100 Atombomben in Europa stationiert – einige davon sollen auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel lagern. Im Ernstfall sollen sie von Kampfjets der Bundeswehr eingesetzt werden.
Deutliche Worte aus Polen
Deutlichere Worte kamen in Brüssel von Polens Regierungschef Donald Tusk. Europa müsse sich „dem von Russland initiierten Wettrüsten“ stellen und auch „gewinnen“, sagte der Premier, dessen Land in diesem Halbjahr den EU-Ratsvorsitz innehat. Ausdrücklich begrüßte er die Erwägungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die nukleare Abschreckung Frankreichs auf europäische Partner auszuweiten. „Es muss eine unserer Prioritäten sein, alle unsere Kapazitäten in Europa zu koordinieren und tatsächlich eine einzige, gut koordinierte Militärmacht aufzubauen“, sagte Tusk in Brüssel.