Neue Weltordnung
Europa sucht seinen Platz
In Zeiten der Krise müsse die EU weniger reden und schneller handeln, konstatieren vier Europaparlamentarier aus Baden-Württemberg in einem Streitgespräch. Verteidigung, Industriepolitik und Klimaschutz werden als zentrale Problempunkte identifiziert.

© Lichtgut/Stefanie Bacher
Sie debattierten im Stuttgarter Pressehaus: Michael Bloss (Grüne), Vivien Costanzo (SPD), Andrea Wechsler (CDU) und Andreas Glück (FDP)
Von Knut Krohn
Europa steht vor gewaltigen Herausforderungen. „Wir erleben einen Epochenbruch“, konstatiert der grüne Europaparlamentarier Michael Bloss, „die anstehenden Probleme werden wir in der Europäischen Union nur gemeinsam lösen können.“ Diese Erkenntnis ist einer der Gründe, weshalb ein Streitgespräch zwischen Vertretern der vier Parteien CDU, SPD, Grüne und FDP im Europaparlament überraschend harmonisch verläuft. Im Zuge der Diskussion auf Einladung unserer Zeitung wird aber deutlich: Die großen Ziele sind zwar klar formuliert, gestritten wird allerdings über die Wege zu einem möglichst eigenständigen, unabhängigen und selbstbewussten Europa.
Die EU muss den Bürgern Lösungen bieten
Auch mit Blick auf ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs, das am Donnerstag in Brüssel beginnt, betonte die Sozialdemokratin Vivien Costanzo, dass die EU den Bürgern angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheiten endlich praktikable Lösungsansätze liefern und diese auch umsetzen müsse. „Es geht längst nicht mehr um die Frage, ob wir zu Reformen fähig sind, inzwischen wird von vielen Menschen die Frage gestellt, ob wir die EU überhaupt noch brauchen“, sagte sie.
Gemeinsam ist den vier Politikern, dass sie diese fundamentale Krise der Weltordnung als Chance begreifen wollen. Dazu müsse Europa aber zusammenstehen und die Kooperation in manchen Bereichen vertiefen, sagte CDU-Frau Andrea Wechsler, und sie fordert einen Ruck, der durch die Union gehen müsse. Etwas salopper formulierte es der FDP-Abgeordnete Andreas Glück: „Wir brauchen ein Bekenntnis zu Europa, das nicht getrieben ist von Angst, sondern von Bock auf die Zukunft.“
Europa darf wegen Trump nicht in Panik verfallen
Mit dieser Aussage bezog er sich vor allem auf die politischen, wirtschaftlichen und geostrategischen Umwälzungen, die sich nach dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten nicht nur für den Westen deutlich abzeichnen. „Donald Trump will mit seinem Vorgehen Angst schüren“, sagte Andreas Glück, „wir dürfen aber nicht in Panik verfallen, wir müssen cool bleiben.“
„Cool“ zu bleiben ist aber nicht so einfach angesichts der ständigen Drohungen von zusätzlichen US-Zöllen auf EU-Waren, der Annäherung Washingtons an Russland und der durchaus realen Möglichkeit, den Europäern den nuklearen Schutzschirm zu entziehen. Wegen dieser Ausgangslage sehen die vier Abgeordneten den Ausbau der Verteidigungsfähigkeit Europas als eine der zentralen Prioritäten für die kommenden Jahre.
Die Verteidigung ist ein Sorgenkind der EU
Allerdings stößt die EU ausgerechnet in diesem Bereich an enge Grenzen. „Europa hat keine eigenen Kompetenzen in Sachen Verteidigung“, erklärte Grünen-Politiker Michael Bloss und kritisierte im selben Atemzug die mögliche neue Regierung Deutschlands. Für den wahrscheinlichen zukünftigen Bundeskanzler Friedrich Merz sei das kein wichtiges Thema, beklagte er. „Berlin übernimmt da absolut keine Verantwortung.“
Die CDU-Politikerin Andrea Wechsler wollte das in dieser Form nicht stehenlassen. „Es ist nicht so, dass die Union da nichts tun kann“, sagte sie. Es gebe viele Weichen, die in Sachen Rüstung auch auf EU-Ebene gestellt werden könnten. Brüssel könne etwa daran arbeiten, die Lieferketten im Bereich der Stahlproduktion zu stabilisieren, zudem könne die Beschaffung von Waffen oder anderen militärischen Gütern koordiniert werden. „Wir sind trotz der eingeschränkten Kompetenzen nicht handlungsunfähig“, unterstrich Andrea Wechsler, und sie verlangte, dass „wir dieses wichtige Signal auch an die Bevölkerung senden“. Auch Vivien Costanzo sieht die Defizite und forderte, bei der Verteidigung mehr Europa zu wagen. Doch erklärte sie, dass es in der aktuellen Lage wichtig sei zu sehen, dass die Verteidigungsminister aller EU-Staaten an einem Strang ziehen und die Verteidigung des Kontinents gemeinsam organisieren würden.
Verteidigung ist mehr als das Kaufen von Panzern
Der FDP-Mann Glück betonte bei der Diskussion im Stuttgarter Pressehaus, dass man Verteidigung auf jeden Fall weiter fassen müsse als „Munition zu kaufen und Panzer zu bauen“. Deshalb sei er „vorsichtig, wenn nun immer neue Sondervermögen ins Spiel gebracht“ würden. „Man kann ein Problem wie Verteidigung nicht einfach nur mit Geld zuschütten“, ist er überzeugt. Wichtig sei auch, die „Resilienz Europas“ zu stärken. Dass zum Beispiel die Energieversorgung diversifiziert werde, die Versorgung der Industrie mit den wichtigen seltenen Erden auch in Krisen gesichert sei oder die Bürger immer die nötigen Medikamente zur Verfügung hätten.
Die EU darf sich nicht verzetteln
Auch bei diesen mahnenden Worten nickten seine Kolleginnen und Kollegen von der politischen Konkurrenz zustimmend. Gerade weil der Kampf gegen die Krise in so vielen Bereichen ausgefochten werden müsse, sei es aber wichtig, sich nicht zu verzetteln. „Wir müssen das Vorgehen priorisieren“, sagte Andrea Wechsler. Im Vordergrund stünden in den kommenden Jahren eindeutig Verteidigung, Industriepolitik und Klimaschutz, betonte die CDU-Politikerin. Die Sozialpolitik dürfe allerdings nicht vergessen werden, betonte die Sozialdemokratin Vivien Costanzo. Auch darauf konnte sich die Runde verständigen, gerade weil Europa zu einer der letzten Verteidigerinnen einer freien und gerechten Weltordnung werden könnte.