Experte: Geplantes Wahlrecht ist „sehr schlechter Vorschlag“
dpa/lsw Friedrichshafen. Der Friedrichshafener Politikwissenschaftler Joachim Behnke kann der Reform-Idee zum Wahlrecht von Grünen, CDU und SPD nichts Gutes abgewinnen. „Das ist ein sehr schlechter Vorschlag, der zu einem aufgeblähten Landtag, zu weniger Basisdemokratie und zu einer viel größerer Zahl reiner Berufspolitiker führen wird, als wir es bislang haben“, kritisierte er am Mittwoch im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Behnke geht von 200 oder mehr Abgeordneten aus, sollte die Zahl der Wahlkreise nicht reduziert werden.
Grüne, CDU und SPD hatten sich am Dienstagabend auf eine Reform geeinigt. Nach ihren Vorstellungen soll es in Baden-Württemberg ähnlich wie im Bund ein Zwei-Stimmen-Wahlrecht geben, bislang hat jeder eine Stimme. Wählerinnen und Wähler sollen dann mit der Erststimme ihren Direktkandidaten im Wahlkreis in den Landtag wählen können. Die Zweitstimme soll wie bei der Bundestagswahl an eine Partei gehen.
Der neue Bundestag mit seinen 736 Abgeordneten sei ein abschreckendes Beispiel, was bei einem Zwei-Stimmen-Wahlrecht passiere, sagte Behnke, der an der Zeppelin-Universität lehrt. Grund für die Vergrößerung seien die sogenannten Überhangmandate, deren Zahl steige, weil es im landesweiten Verhältnis kaum noch wirklich dominante Parteien gebe. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt als ihr nach dem Zweitstimmergebnis zustehen.
Behnke schlägt sogar eine Halbierung der Wahlkreiszahl vor, die dann von zwei Kandidaten vertreten werden könnten, so dass jede Partei in einem Wahlkreis jeweils mit einer Frau und einem Mann antreten könnte. Dadurch erhöhe sich auch der moralische Druck auf die Parteien. Denn der Frauenanteil im Parlament werde sich allein durch die Reform nicht sicher erhöhen, sagt er. „Die Grünen hatten bislang auch kein Problem, Frauen in den Landtag zu bekommen“, sagte Behnke. „Das ist eine Frage der Kultur in der Partei. Und wer die Kultur nicht hat, der wird auch nicht mehr Frauen auf die Listen setzen.“
Der Politikexperte sorgt sich zudem um den wachsenden Einfluss der Parteizentralen: Durch die Besetzung fast jedes zweiten Mandats über die Landesliste gehe der Einfluss der Wähler zurück, es zögen immer mehr Funktionäre ins Parlament ein. „Das neue Wahlgesetz ist in gewisser Weise so etwas wie ein Misstrauensantrag der Parteien gegen ihre eigenen Wähler“, kritisierte Behnke. „So züchten wir uns eine Kaste von Berufspolitikern heran, die ohne Erfahrung bereits in jungen Jahren ein Amt besitzen.“
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