Loch im Hauptbahnhof: Fassaden-Steine fallen 15 Meter tief
dpa/lsw Stuttgart. Seit Jahrzehnten laufen die Planungen für das milliardenschwere Bahnprojekt Stuttgart 21. Fast ebenso lang macht das Vorhaben Schlagzeilen - etwa wegen ausufernder Kosten oder Wasserwerfern gegen Demonstranten. Und nun klafft an der Fassade des denkmalgeschützten Bahnhofsgebäudes ein großes Loch.
Glücklicherweise wird niemand verletzt: Am denkmalgeschützten Gebäude des Stuttgarter Hauptbahnhofs haben sich mitten in der Nacht schwere Steine gelöst und sind auf den Boden gestürzt. In der Fassade klafft nun ein Loch von rund drei Metern Durchmesser. Feuerwehr, Bundespolizei, Verantwortliche der Bahn und Statiker eilen herbei. Aus Sicherheitsgründen wird der im Zuge des milliardenschweren Bahnprojekts Stuttgart 21 bekanntgewordene Bonatzbau gesperrt - genauso wie der davor liegende Teil für die Taxis, wo die Steine auf den Boden prallen. Ursache und Schadenshöhe sind noch unbekannt.
Der Zugverkehr wurde laut Bahn nicht beeinträchtigt. Passagiere wurden über das Gelände der Landesbank Baden-Württemberg und den Schlossgarten zu den Zügen umgeleitet. Einige Menschen versuchten am Morgen rennend noch ihren Zug zu erwischen. Doch zeitweise stauten sich die Menschenmassen. Teils über Metallstege entlang der Bahnhofsbaustelle führte ein schmaler Pfad an der Bank vorbei. Hier bildeten sich lange Schlangen, Corona-Abstände wurden oft nicht eingehalten. An Absperrgittern im und vor dem Bahnhof standen Mitarbeiter der Bahn und der Bundespolizei und wiesen Fahrgästen den Weg. Per Durchsage wurde informiert, dass das Bahnhofsgebäude wegen „behördlicher Maßnahmen“ gesperrt sei.
Die Steine fielen oberhalb zweier Fenster heraus, aus einer Höhe von etwa 15 Metern. Die Feuerwehr setzte Sonderfahrzeuge ein. Mit einer Drehleiter erkunden die Experten das Loch.
Das fast 100 Jahre alte Empfangsgebäude und Wahrzeichen Stuttgarts wird seit 2019 von der Deutschen Bahn saniert. Ein Sprecher der Deutschen Bahn gab nur spärliche Informationen: „Wann genau die letzten Arbeiten hinter dem Fenster stattgefunden haben, entzieht sich meiner Kenntnis“, sagte er. Und: „Die Deutsche Bahn hat noch in den frühen Morgenstunden mit Hochdruck begonnen, gemeinsam mit einem Expertenteam zu ermitteln, warum sich die Fassadenteile lösen konnten. Sobald das weitere Vorgehen feststeht, wird die Deutsche Bahn über die weitere Entwicklung informieren.“
Bringt der Zwischenfall den Zeitplan des umstrittenen Großprojekts Stuttgart 21 durcheinander? Nein, betont der Bahnsprecher. „Verzögerungen im Projekt Stuttgart 21 sind nicht zu erwarten.“ In dem betroffenen Bereich des Gebäudes seien früher Büroräume gewesen. Auch künftig sollen dort wieder Büros sein.
Der umstrittene Bahnhof mit einem Kostenrahmen von 8,2 Milliarden Euro soll nach diversen Kostensteigerungen und zeitlichen Verschiebungen 2025 fertig sein. Im Finanzierungsvertrag waren 2009 noch 4,5 Milliarden Euro festgelegt worden. Im Rahmen des Großprojektes wird der bestehende Kopfbahnhof durch einen tiefergelegten und um 90 Grad gedrehten Durchgangsbahnhof ersetzt.
Die Planungen für die Modernisierung des Bonatzbaus wurden von der Bahn, der Stadt, den Denkmalschutzbehörden und dem Architekturbüro Ingenhoven entwickelt. Der Entwurf sieht vor, die bestehenden, prägenden Gebäudeteile des Bonatzbaus - Turm, Kopfbahnsteighalle, Mittelaufgang sowie Kleine und Große Schalterhalle - zu erhalten und durch das neue Tragwerk zu entlasten und zu sichern. Außerdem soll moderne Gebäudetechnik eingebaut werden.
Gegen Stuttgart 21 regten sich nach dem Baubeginn heftige Proteste. Im Sommer 2010 gingen immer wieder Zehntausende Gegner des Projektes auf die Straße. Ganz Deutschland blickte auf die Schwabenmetropole und deren „Wutbürger“, die gegen den Bau protestierten.
Am „Schwarzen Donnerstag“ im September 2010 eskalierte der Konflikt zwischen Gegnern und Polizei. Polizisten traktierten Demonstranten mit Schlagstöcken und Pfefferspray. Wasserwerfer wurden auf Menschen gerichtet. Bei der Räumung des Stuttgarter Schlossgartens wurden laut Innenministerium weit mehr als 160 Menschen verletzt, einige schwer.
Das Verwaltungsgericht Stuttgart erklärte den Einsatz im November 2015 für rechtswidrig. Der eskalierte Polizeieinsatz führte unter anderem auch zu einer Schlichtung, Untersuchungsausschüssen im Landtag und einer Volksabstimmung.
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