75 Jahre Grundgesetz
Fast hätte die deutsche Fahne ein Kreuz bekommen
Braucht der Mittelstand speziellen Grundrechtsschutz? Als das Grundgesetz verabschiedet wurde, war das im Gespräch. Es gab noch viele andere Streitpunkte.
Von Christian Gottschalk
Das Grundgesetz wird 75 Jahre alt. Einer, der an dessen Entstehung maßgeblich beteiligt war, ist Theodor Heuss. Der erste Bundespräsident konnte sich nicht mit all seinen Wünschen durchsetzen, mit vielen aber schon, sagen die beiden Historiker Thomas Hertfelder und Wolfgang Becker von der Stiftung Bundespräsident Theodor Heuss Haus. Ein Gespräch über unsere Verfassung, Grundrechte, Staatsorganisation und kuriose Vorschläge für die Deutschland-Fahne.
Herr Hertfelder, Herr Becker, hatten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates daran gedacht, dass Ihr Grundgesetz mal den 75. Geburtstag feiern könnte, als sie es verabschiedet hatten?
Becker: Sicher nicht. Es war Konsens damals, dass man ein Provisorium schafft, keine endgültige Verfassung. Gleichwohl wollte Theodor Heuss etwas Festes und Stabiles mit Modellcharakter für das östliche Deutschland erarbeiten. Carlo Schmid hingegen wollte nur eine Art Organisationsstatut schaffen, weil die Verfassung unter alliierter Besatzungsherrschaft angeordnet war. Heuss hat sich aber weitgehend durchgesetzt: Die Präambel enthielt schließlich kaum Hinweise, die auf ein Provisorium hindeuten.
Hertfelder: Ein Provisorium war das Grundgesetz vor allem wegen der Nachkriegssituation, auf Grund der deutschen Teilung, die sich seit Sommer 1947 abzeichnete. Man darf außerdem nicht vergessen, dass die Bundesrepublik Deutschland auch nach der Verabschiedung des Grundgesetzes noch kein souveräner Staat gewesen ist, da die Westalliierten sich im Besatzungsstatut vorbehalten hatten, jederzeit wieder die volle Gewalt zu übernehmen – sie trauten den Deutschen nicht über den Weg. Im Übrigen haben die Männer und Frauen des Parlamentarischen Rats im Großen und Ganzen durchaus gewusst, was sie inhaltlich wollten, aber sie haben eben auch damit gerechnet, dass man im Falle einer Deutschen Einigung eine neue Verfassung brauchen würde.
Gleichwohl gab es bei der Ausarbeitung Differenzen, nicht nur bei der Präambel. Wo hat es noch gehakt?
Becker: An vielen Stellen. Theodor Heuss hat sich zum Beispiel klar dagegen ausgesprochen, Volksabstimmungen im Grundgesetz aufzunehmen. Das Grundgesetz selbst wollte er aber unbedingt dem Volk zur Abstimmung vorlegen. Damit konnte er sich gegen SPD und CDU nicht durchsetzen, weil diese durch ein Referendum destabilisierende Konflikte in der Bevölkerung befürchteten.
Hertfelder: Heftig gerungen wurde um die Grundrechte. Die SPD und andere wollten einen viel weiter reichenden Grundrechtskatalog, zum Beispiel ein Grundrecht auf Arbeit. Heuss gehörte zu denen, die das für einen Fehler hielten und dafür plädiert haben, dass der Grundrechtskatalog auf die klassischen bürgerlichen Freiheitsrechte beschränkt bleibt – und einklagbar. Das war in der Weimarer Verfassung nicht so. Deren Grundrechtskatalog umfasste 56 Artikel zu allen möglichen Themen, zum Beispiel gab es den besonderen Schutz des Mittelstandes und der Beamten. Aber durchsetzbar waren diese Bestimmungen eben nicht.
Was Heuss damals abgewehrt hat, wird heute immer wieder versucht. Machen wir den Fehler heute?
Hertfelder: Man sollte sich schon gut überlegen, was man in die Grundrechte hineinschreibt. Oder ob man nicht die Rechtsordnung beschädigt, wenn zu viel formuliert wird, was man dann hinterher nicht durchsetzen kann. Außerdem kann es eine Kettenreaktion geben. Erst erhalten die Kinder, dann die Senioren, dann die Migranten ihre besonderen Grundrechte. Hier sehe ich die Gefahr, dass die Grundrechte ins Unverbindliche ausfransen.
Becker: Vieles, was in der Verfassung festgelegt wird, entzieht sich erst einmal dem aktuellen politischen Diskurs. Das hat Heuss gut erkannt, deswegen wollte er einen schlanken Grundrechtskatalog. Heuss war zum Beispiel immer gegen die Prügelstrafe – aber als Grundrecht wollte er das Verbot der Prügelstrafe nicht aufnehmen.
Trotzdem: es wird immer mehr hineingeschrieben in das Grundgesetz....
Becker: Das Grundgesetz hat seit seiner Verabschiedung 1949 insgesamt 67 Änderungen erlebt und sich im Umfang verdoppelt. Oft mit kleinteiligsten Festlegungen wie bei der Bund-Länder-Zuständigkeit.
Sind das Regeln, die man beim Provisorium vergessen hat?
Hertfelder: Nein, so ist das nicht. Eine Verfassung wird weiterentwickelt, das ist ganz natürlich. Die Gesellschaft ändert sich, es entstehen neue Anforderungen, die müssen auch in der Verfassung abgebildet werden können. Man hat in den 1960er Jahren viel am Föderalismus geändert, um die sogenannten „Gemeinschaftsaufgaben“ zu stemmen, etwa beim Bau von Hochschulen und Krankenhäusern. Da war man der Ansicht, dass dies nicht Ländersache bleiben könne, sondern dass der Bund mit in die Verantwortung muss. Mit dem Nachteil, dass nachher die Zuständigkeiten nicht mehr klar abgrenzbar sind. Die Amerikaner haben übrigens erfolglos versucht, so einen Mischmasch, wie ihn etwa schon der Bundesrat darstellt, zu verhindern, als der Parlamentarische Rat getagt hat.
Wie groß war der Einfluss der Alliierten auf unser Grundgesetz?
Becker: Die Alliierten haben schon manchmal eingegriffen, wenn sie den Eindruck hatten, die Verfassung könnte zu zentralistisch werden. Aber im Großen und Ganzen haben sie sich zurückgehalten. Man kann nicht sagen, das Grundgesetz sei von den Alliierten diktiert worden. Und was den Föderalismus angeht: Heuss war übrigens ein Gegner einer Länderkammer nach Art des Bundesrates. Dort sitzen Vertreter der Exekutive und die werden mit Vertretern der Legislative, des Bundestages, in einer komischen Mischkonstruktion zusammengeführt. Heuss plädierte hingegen für einen Bundesrat mit „senatorieller Schleppe“, in dem auch Vertreter der Landtage sitzen sollten.
Bei den Grundrechten hat sich Heuss also durchgesetzt, bei der Staatsorganisation nicht. Wie sieht es in anderen Bereichen aus?
Hertfelder: Die Kirchen wollten ein Recht der Eltern durchsetzen, Kinder auf Schulen ihrer Konfession zu schicken. Und natürlich auch, dass der Staat diese Schulen fördert, wenn sie eingerichtet werden. Heuss war der vehementeste Gegner davon, er wollte nicht die Trennung, aber eine Entflechtung von Staat und Kirche. Hier hat er sich durchgesetzt, bei der Kriegsdienstverweigerung nicht.
Was war da der Streitpunkt?
Hertfelder: Theodor Heuss war immer der Ansicht, dass die Wehrpflicht das legitime Kind der Demokratie sei. Er war sogar dagegen, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Verfassung festzuschreiben.
Becker: Heuss hat gewusst, seine Auffassung mit wechselnden Mehrheiten durchzusetzen. Mal mit der CDU gegen die SPD, mal anders herum – wie bei der Bundesflagge.
In Artikel 22 heißt es: Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold. Gab es auch darum Streit?
Becker: Die Farbe war weitgehend unstrittig. Aber es gab unterschiedliche Vorstellungen, was noch dazu kommen soll. Die CDU wollte zum Beispiel das Symbol des christlichen Kreuzes auf der Fahne haben.
Hertfelder: Aus der Bevölkerung kamen sehr viele Vorschläge, wie die neue Fahne aussehen soll – neben Kreuzen auch fliegende Adler, aufgehende Sonnen und viele zum Teil kuriose Dinge.
Das Grundgesetz enthält ein Kapitel über den Bundespräsidenten. Heuss war der erste, der diese Position ausgefüllt hat. War er mit den selbst gegebenen Regeln zufrieden?
Becker: Dazu hat er sich nie richtig geäußert. Es gibt Hinweise, dass er vielleicht gerne mehr Macht gehabt hätte, aber ohne dafür das Grundgesetz zu ändern. Er wollte zum Beispiel an Kabinettssitzungen teilnehmen und den Oberbefehl über die Bundeswehr in Friedenszeiten. Aber das hat Adenauer gleich abgeblockt.
Hertfelder: Die Position des Bundespräsidenten ist im Grundgesetz ja nur vage beschrieben, aber Heuss hat sie geformt. Im Grundgesetz steht nirgendwo, dass er eine Integrationsfigur sein soll, dass er nicht in aktuelle politische Debatten eingreifen soll, dass er sich neutral verhalten und mit seinen Reden als moralische Instanz wirken sollt. Heuss hat das so gemacht – und seine Nachfolger haben es bis zum heutigen Tag übernommen.