Angewohnheiten und Marotten

Finger weg! Warum wir uns so oft ins Gesicht fassen

Kinder ermahnt man, sich nicht ständig ins Gesicht zu fassen. Doch auch Erwachsene tun es. Und zwar öfter, als man denkt. Wozu das gut ist und was es auch über andere verrät.

Menschen fassen sich etwa 800 Mal am Tag ins Gesicht: Diese Berührungen helfen, Stress zu reduzieren und Emotionen zu regulieren

© dpa/Christin Klose

Menschen fassen sich etwa 800 Mal am Tag ins Gesicht: Diese Berührungen helfen, Stress zu reduzieren und Emotionen zu regulieren

Von Markus Brauer/dpa

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie oft Sie sich täglich ins Gesicht fassen? Der Psychologe Julian Packheiser von der Ruhr-Universität Bochum forscht unter anderem zu Gesundheitseffekten von Berührungen und berichtet im Magazin „Spektrum Psychologie“ (Ausgabe 08/2024), dass Menschen das durchschnittlich 50 Mal pro Stunde tun. Das ergibt bis zu 800 Berührungen pro Tag. Manche davon haben einen praktischen Zweck, etwa um die Frisur zu richten oder müde Augen zu reiben. Doch die meisten erfolgen ohne ersichtlichen Grund.

Berührungen reduzieren Stress

Packheiser erklärt, dass unbewusste Gesichtsberührungen eine wichtige Funktion erfüllen könnten: „Laut neueren Theorien dienen unbewusste Gesichtsberührungen zur Stressreduktion und helfen, den Gefühlshaushalt zu regulieren.“

Berührungen im Allgemeinen fördern bekanntermaßen die Gesundheit, so der Psychologe. Sie können Ängste lindern, Traurigkeit mindern, Schmerzen reduzieren und sogar den Blutdruck senken.

Das gilt nicht nur für Kontakt mit anderen: Forscher der Goethe-Universität Frankfurt fanden 2021 in einer randomisierten kontrollierten Studie heraus, dass sowohl Berührungen von anderen als auch von einem selbst vor einer Stresssituation einen Effekt auf das Stresslevel der Teilnehmer hatten.

Sowohl diejenigen, die von anderen berührt wurden als auch die, die sich selbst berührten, hatten hinterher einen niedrigeren Wert des Stresshormons Cortisol im Blut als die dritte Gruppe der „Unberührten“.

Welche Rolle spielt das Gesicht?

Zwar wählten die Teilnehmer der Selbstberührungsgruppe nicht immer das Gesicht, manche strichen sich über den Arm oder legten die Hände auf die Brust. Dennoch deuten andere Forschungen darauf hin, dass Gesichtsberührungen in stressigen oder kognitiv anspruchsvollen Situationen besonders häufig vorkommen, so Packheiser weiter.

Das zeigt etwa eine systematische Übersichtsarbeit eines Forscherteams des Paul-Flechsig-Instituts – Zentrum für Neuropathologie und Hirnforschung der Universitätsklinik Leipzig, die ebenfalls 2021 veröffentlicht wurde. „Obwohl es noch wenig Forschung zu Selbstberührungen gibt, deuten solche Indizien darauf hin, dass das Berühren des eigenen Gesichts Stress mildern kann.“

Sensible Nervenenden im Gesicht

Joe Navarro, ein ehemaliger FBI-Verhaltensanalyst, erklärt im Magazin „Psychology Today“, dass die Gründe für diese Vorliebe in der Anatomie unseres Körpers liegen. Unsere Gesichter sind besonders reich an empfindlichen Nervenenden, die mit dem Gehirn direkt verbunden sind.

Diese Nerven – insbesondere der fünfte (Trigeminusnerv) und der siebte Hirnnerv (Facialisnerv) – ermöglichten es, dass Berührungen im Gesicht das Gehirn schneller und effektiver erreichen als an anderen Körperstellen.

Ein sanftes Streichen über die Wange oder das Berühren der Lippen sende beruhigende Signale blitzschnell ins Gehirn. Diese Sofortwirkung ist entscheidend, weil wir gerade in stressigen Momenten schnell Erleichterung brauchen. Das Ins-Gesicht-Fassen beruhige das Gehirn und helfe dabei, die innere Balance wiederherzustellen.

So sei es für andere auch ein Hinweis darauf, wie es im Inneren aussieht, ob jemand gestresst ist und Unterstützung braucht, so Navarro.

Und was ist mit Krankheitserregern?

„Wenn sich also Ihr Partner oder die Kollegin das nächste Mal häufig an die Nase fasst, fragen Sie ruhig einmal nach, ob alles in Ordnung ist“, rät Julian Packheiser.

Übrigens: Sich nicht ins Gesicht zu fassen, wäre manchmal besser – Stichwort Krankheitserreger –, ist aber gar nicht so leicht. „Die aktive Vermeidung von Berührungen im Gesicht zur Verringerung von Infektionen erfordert geistige Anstrengung“, schreiben die Leipziger Forscher. Das müssen wir also ganz bewusst tun.

Aus hygienischen Gründen sollte man diese Marotte besser sein lassen, da die menschlichen Griffel echte Keimschleudern sind. Auf den Händen tummeln sich Dutzende verschiedene Bakterien wie beispielsweise Darmkeime (Enterokokken) und, Eiterkeime (wie Staphylococcus Aureus oder Acinetobacter, ein Keim, der bei immungeschwächten Menschen Infektionen verursachen kann).

Massenphänomen Skin Picking

An Haut, Haaren, Lippen, Nägeln und Zähnen herumzufingern kann bei Stress beruhigen. Doch immer, wenn etwas außer Kontrolle gerät, im Übermaß oder unbewusst geschieht, kann eine Marotte zum Tick und schlimmstenfalls zur psychischen Störung mutieren.

In der Medizin wird dieses weitverbreitete Phänomen als „Skin Picking Disorder“ bezeichnet, was übersetzt so viel wie Haut-Aufkratzen-Störung bedeutet. Notorische Knibbler heißen Skin Picker. Skin Picking ist eine offizielle psychische Erkrankung und wird in der Psychiatrie in der Kategorie „Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“ eingeordnet.

Die Skin-Picking-Störung gehört zu den sogenannten Impulskontrollstörungen. In der Medizin heißt der Fachbegriff hierfür Dermatillomanie – von griechisch „derma“ ( Haut), „tillein“ (rupfen) und „mania“ (Begeisterung, Wahnsinn).

Wie äußert sich Skin Picking?

Ein bisschen drücken ist nicht schlimm, aber sehr viele quetschen und kratzen an der Haut bis sie blutet. Wenn das Skin Picking über mehrere Wochen oder Monate anhält Hautschäden sichtbar werden, ist das ein Alarmsignal.

Auch wie sehr das Problem den Alltag beeinflusst, spielt dabei eine Rolle. Viele schämen sich für die Entzündungen oder die Narben und isolieren sich.

Seelisches Ventil

  • Skin Picking ist häufig ein Ventil und tritt auf, wenn man Stress hat, angespannt oder überfordert sowie heftigen Emotionen wie Wut oder Trauer ausgesetzt ist. Viele kratzen, drücken oder quetschen auch bei Langeweile.
  • Um das Problem angehen zu können, müssen Betroffene den Auslöser und typische Knibbel-Situationen finden.
  • Zwar ist Skin Picking in erster Linie ein psychisches Problem. Dennoch kann der Hautarzt helfen, größere Schäden wie Narben oder Entzündungen zu verhindern. Narben sollten dann mit Kortison oder Cremes auf Silikon-Basis behandelt werden.

Verhaltenstherapie kann helfen

Aus Scham verstecken Betroffene häufig ihre Knibbel-Manie. Wer merkt, dass er sich selbst nicht helfen kann, sollte sich Hilfe suchen. Entweder über den Hausarzt oder gleich bei einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, der kognitive Verhaltenstherapie anbietet.

Bewährt hat sich – vor allem bei schweren Verlaufsformen – eine Kombination aus Verhaltenstherapie und Medikation (spezielle Antidepressiva oder Neuroleptika). Bei erfolgreicher Therapie kommt es meist zur deutlichen Verbesserung der Symptomatik.

Willensanstrengung alleine reichen oft nicht aus. Verhaltenstherapeuten raten bei exzessiven Nägelkauen (Fachbegriff: Onychophagie) oder beim Skin Picking zu einem sogenannten Reaktions-Umkehr-Training, einem verhaltenstherapeutisches Verfahren, um nervöse Verhaltensangewohnheiten zu behandeln. Dabei soll man sich bewusst werden, in welchen Situationen und warum man zwanghaft handelt und Alternativen entwickeln.

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Erstellt:
2. Januar 2025, 11:38 Uhr
Aktualisiert:
2. Januar 2025, 12:00 Uhr

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