„Weltmeister bei Krankheitstagen“
Forderung von Allianz-Chef: Müssen die Deutschen bald krank zur Arbeit?
Oliver Bäte (Allianz) und Olla Källenius (Mercedes) fordern Karenztage bei Krankheit. Die Deutschen sollen demnach auf ein bis drei Tage Lohn verzichten, wenn sie mit Viren und Bazillen zu Hause bleiben. Mit den Gewerkschaften dürfte das nicht zu machen sein.
Von Michael Maier
Der Vorschlag von Allianz-Chef Oliver Bäte, Arbeitnehmern am ersten Tag einer Krankmeldung keinen Lohn mehr zu zahlen, stößt auf scharfe Kritik, aber auch Zustimmung. Bäte hatte in einem Interview mit dem „Handelsblatt“ gesagt, Deutschland sei inzwischen Weltmeister bei den Krankheitstagen. „Das erhöht die Kosten im System.“ Arbeitgeber zahlten hierzulande jährlich 77 Milliarden Euro Gehälter für krankgeschriebene Mitarbeiter. „Von den Krankenkassen kommen noch einmal 19 Milliarden Euro hinzu. Das entspricht rund 6 Prozent der gesamten Sozialausgaben.“ Mit seinem Vorschlag könnten pro Jahr 40 Milliarden Euro eingespart werden.
Der Sozialexperte Bernd Raffelhüschen sagte der „Bild“-Zeitung (Dienstag): „Die Einführung eines unbezahlten Krankheitstages ist ein sinnvoller Vorschlag und sollte von der nächsten Regierung zügig umgesetzt werden.“ Laut der Zeitung sind deutsche Arbeitnehmer im Schnitt 20 Tage pro Jahr krank. Im EU-Schnitt sind es demnach nur 7 Tage.
Drei unbezahlte Krankheitstage?
Der neoliberale Ökonom Raffelhüschen spricht sich sogar für drei unbezahlte Krankheitstage und mehr Eigenbeteiligung gesetzlich Versicherter bei Arzneimittel- und Arztkosten aus. Die Einführung von ein bis drei Karenztagen sei sinnvoll, sagte Raffelhüschen. „Karenztage sind ein guter Weg, um selbst zu entscheiden, ob man arbeitsfähig ist oder nicht.“
Allerdings seien Karenztage „nur Tropfen auf den heißen Stein“. Nötig sei eine höhere Selbstbeteiligung der gesetzlich Versicherten, „damit die Krankenkassen entlastet werden“, glaubt Raffelhüschen. Patienten sollten zum Beispiel die ersten 500 oder 1000 Euro bei Arztbehandlungen im Jahr selbst tragen. Denkbar wäre auch, dass alle Medikamente zu 20 Prozent aus eigener Tasche bezahlt werden müssen.
Viele Krankheitstage in Deutschland
Der Chef des Versicherungskonzerns Allianz, Oliver Bäte, hatte in einem Interview mit dem „Handelsblatt“ vorgeschlagen, einen Karenztag bei Krankmeldungen wieder einzuführen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund kritisierte diesen Vorschlag als „zutiefst ungerecht“. Vorstandsmitglied Anja Piel verwies zudem auf Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), wonach der Krankenstand in Deutschland kein Rekordniveau erreicht hat. Demnach sind die von den Krankenkassen gemeldeten Höchstwerte für das Jahr 2024 vor allem eine Folge der besseren Erfassung von Krankheitstagen und somit ein statistischer Effekt.
Mercedes kritisiert Krankmeldungen
Mercedes-Chef Ola Källenius unterstützt indes den Vorschlag. „Der hohe Krankenstand ist ein Problem für die Unternehmen. Wenn unter gleichen Produktionsbedingungen der Krankenstand in Deutschland teils doppelt so hoch ist wie im europäischen Ausland, hat das wirtschaftliche Folgen“, sagte er der „Bild“.
Kritik kommt dagegen vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Schon jetzt gingen viele Angestellte zu oft krank zur Arbeit, zitierte der Sender ntv DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. „‚Präsentismus’, also krank bei der Arbeit zu erscheinen, ist branchenübergreifend weit verbreitet“, so Piel.
Auch Ungeimpfte haben im Fall einer Corona-Infektion übrigens einen uneingeschränkten Anspruch auf Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber, wie das Bundesarbeitsgericht inzwischen entschieden hat. Ob die Infektion symptomfrei verläuft, ist dabei unerheblich.
Fakten zur Lohnfortzahlung
- Gesetzliche Grundlage: In Deutschland ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall im Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) geregelt.
- Dauer der Zahlung: Arbeitnehmer haben Anspruch auf Lohnfortzahlung für bis zu 6 Wochen (42 Tage) im Krankheitsfall.
- Höhe der Zahlung: Während der Lohnfortzahlung erhalten Arbeitnehmer in der Regel 100 Prozent ihres Nettogehalts.
- Voraussetzungen: Anspruch auf Lohnfortzahlung besteht, wenn das Arbeitsverhältnis mindestens 4 Wochen ununterbrochen besteht.
- Ärztliche Bescheinigung: Spätestens ab dem 4. Krankheitstag muss eine ärztliche Bescheinigung vorgelegt werden (abhängig vom Arbeitsvertrag).
- Krankenkasse: Nach sechs Wochen übernimmt die Krankenkasse die Zahlungen in Form von Krankengeld, das in der Regel 70 Prozent des Bruttogehalts beträgt.
- Sonderregelungen: Für bestimmte Berufsgruppen oder bei Unfällen können zusätzliche Regeln gelten.
Viele gehen krank zur Arbeit
„Schon vor Corona gaben etwa 70 Prozent der Beschäftigten an, mindestens einmal im Jahr krank zur Arbeit erschienen zu sein und im Durchschnitt fast neun Arbeitstage pro Jahr trotz Erkrankung gearbeitet zu haben“, sagte Piel unter Berufung auf eine repräsentative Umfrage. Präsentismus schade der eigenen Gesundheit und könne auch zur Ansteckung von Kolleginnen und Kollegen oder Unfällen führen - mit hohen Folgekosten.
Die IG Metall bezeichnete es laut dem Sender als unverschämt und fatal, den Beschäftigten Krankmacherei zu unterstellen. „Wer Karenztage aus der Mottenkiste holt, greift die soziale Sicherheit an und fördert verschleppte Krankheiten“, sagte Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban.
Helmut Kohl und die Lohnfortzahlung
Karenztage waren auch in den 90er Jahren unter CDU-Kanzler Helmut Kohl schon im Gespräch. Die damalige CDU-FDP-Regierung hatte 1996 sogar die gesetzliche Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf 80 Prozent reduziert. Kohl soll nach dem Bundestagsbeschluss Champagner für sein gesamtes Kabinett bestellt haben – lief mit der Maßnahme aber bei den Sozialpartnern komplett auf.
Die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, zwangen die Arbeitgeber damals mit Streikdrohungen, die Lohnfortzahlung tariflich bei 100 Prozent zu belassen. Die gesetzliche Absenkung lief also ins Leere. Die rot-grüne Bundesregierung von Gerhard Schröder kippte die Kohlschen Kürzungsversuche zum 1. Januar 1999 dann auch gesetzlich. Zur Wahlniederlage von CDU und FDP hatte auch das Thema Lohnfortzahlung beigetragen.
114 Tage Streik für die Lohnfortzahlung
Erkämpft worden ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1956/57 von der IG Metall mit 114 Tagen Streik in der deutschen Schlüsselindustrie. Seit 1. Juli 1957 betrug die sechswöchige Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber 90 Prozent, seit 1961 dann 100 Prozent. Zuvor hatte es für Arbeiter lediglich Krankengeld von der Krankenkasse sowie freiwillige Arbeitgeberzuschüsse gegeben. Für Angestellte war die sechswöchige Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall dagegen schon 1861 eingeführt worden.
Mit Agenturmaterial.