Atomkraft
Frankreich probt die Atomdemokratie
In Gravelines in Nordfrankreich soll die größte Atomanlage der Welt entstehen. Für die Anwohner gibt es eine „öffentliche Debatte“. Die Mitbestimmung hält sich allerdings in Grenzen.
Von Stefan Brändle
Wind und Regen, verschlackte Sanddünen und sechs Atommeiler: Gravelines an der französischen Seite des Ärmelkanal ist wirklich kein Touristenmagnet. Aber jetzt erhält Gravelines „ein schönes Projekt“. Das sagt der Chefplaner von Electricité de France (EDF), Antoine Ménager, an diesem im renovierten Saal der hiesigen Festung. Das Projekt besteht aus zwei Druckwasserreaktoren (EPR), die zwischen 2026 und 2038 neben dem Hafenareal entstehen sollen. Ihre Leistung von je 1600 Megawatt würde mit den je 900 Megawatt der bestehenden Meiler eine Nuklearanlage von insgesamt 8600 Megawatt schaffen. „Die größte der Welt“, sagt Ménager vor 300 Zuhörern, nicht ohne Stolz.
Der Informationsanlass ist der erste von einer ganzen Reihe, die bis im Januar in Nordfrankreich angesagt sind. Organisiert werden sie von der Nationalen Kommission für die öffentliche Debatte (CNDP), einer vom Staat geschaffenen, nach eigener Darstellung aber „unabhängigen“ Instanz der französischen Demokratie.
Mehrkosten von 13,2 Milliarden Euro
Kernkraft ist für die CNDP ein Musterthema: Sie ist von der Staatsspitze beschlossen , aber sie soll auch die lokale Bevölkerung einbeziehen. Nur, was ist mit „einbeziehen“ gemeint? Eine Frau, die sich als Mitglied der Grünenpartei EELV outet, bezeichnet das Vorgehen als undemokratisch und fragt, ob eine solche Debatte überhaupt schon einmal etwas an der Behördenabsicht geändert habe. Ja, in 60 Prozent der Fälle seien die jeweiligen Projekte in der Folge angepasst worden, sagt der CNDP-Vertreter. Das betreffe aber meist nur „Begleitmaßnahmen“, wirft die Fragestellerin sei. Die Atomkraft erfordere zuerst eine Grundsatzdebatte, die, wenn sie ernst gemeint sei, auch die Möglichkeit eines „nein danke“ einschließe. Immerhin, an dem Podiumsgespräch sind die AKW-Gegner gut vertreten. Und Yves Marignac von der Vereinigung Négawatt wird gleich sehr grundsätzlich: Er zitiert Studien, laut denen es möglich sei, in Frankreich genug Energie zu sparen, um sich zu „hundert Prozent“ auf erneuerbare Energien beschränken zu können. Diese seien billiger und auch schneller, denn die neuen EPR würden in Gravelines kaum vor 2040 ans Netz gehen.
Der erste EPR Frankreichs ist in Flamanville (Normandie) eben erst angeschaltet worden – mit zwölfjähriger Verspätung und vervierfachten Mehrkosten von 13,2 Milliarden Euro. EDF-Vertreter Ménager erklärt dies damit, die französischen Atomingenieure hätten seit über 20 Jahren kein AKW mehr gebaut, was den Bau von Flamanville erschwert habe. „Wir haben dazugelernt“, fügt der Stromingenieur an. Laut seinen Studien gibt es „keine glaubwürdige europäische Alternative“ zu den EPR. Das schließe den Ausbau der Erneuerbaren nicht aus: Vor der Küste von Gravelines plant die EDF auch einen Windpark. Schon, doch mit 600 Megawatt werde er nicht einmal zehn Prozent der Atomanlage beisteuern, hält Nicolas Fournier vom Ökoverein „Les Amis de la Terre“ dagegen. Indem sich Frankreich auf die Kernkraft konzentriere, vernachlässige es die Sonnen- und Windenergie. Außerdem werde Gravelines Berge von Atommüll produzieren; das Endlager in Bure (Lothringen) sei aber noch umstritten.
Franzosen sind mehrheitlich für die Atomkraft eingestellt
An diesem Abend entsteht nicht der in Europa vorherrschende Eindruck, die Franzosen seien allesamt pro „nucléaire“. Ein Bürger will wissen, ob der Meeranstoß der acht Reaktoren durch das Unglück von Fukushima nicht in Frage gestellt werde. Projektleiter Ménager beschwichtigt: Die zu Kühlzwecken am Meerufer platzierte Anlage werde wegen der Erfahrung in Fukushima auf elf Meter Höhe gebaut, was jeden Tsunami brechen soll. Die Reaktordeckel – in Gravelines gibt es keine Kühltürme – seien genug stark, um den „Absturz eines großen Zivilflugzeuges auszuhalten“. Nicolas Fournier stellt in Abrede, dass die Kernkraft Frankreichs „energetische Unabhängigkeit“ gewährleiste. Am Vorabend habe er in Dünkirchen selber mitverfolgt, wie ein russisches Schiff angereichertes Uran ausgeladen habe – trotz des Krieges in der Ukraine.
Das sind viele Fragen für Ménager. Seine erste Antwort wirkt nicht sehr überzeugend: Frankreich führe zwar Uran ein, stelle den Strom daraus aber allein, also in „nationaler Souveränität“ her. Die Kernkraft wäre ohne staatliche Subventionen nicht wettbewerbsfähig, führt Fournier weiter an. EDF rechne auch den jahrzehntelangen Abbau ausrangierter Kernkraftwerke nicht in die Finanzrechnung ein.
Mit fortlaufendem Abend verstärkt sich der Eindruck: Diese öffentliche Debatte dient vor allem dazu, dass die EPR-Gegner Dampf ablassen können. Mehr nicht: Mitbestimmung ist in Frankreich nicht vorgesehen. Aber vielleicht ist das kritische Publikum in Gravelines auch nicht repräsentativ. Laut mehreren, nach Beginn des Ukraine-Krieges erstellten Umfragen bleiben die Franzosen mehrheitlich für die Atomkraft eingestellt. Neu ist, dass sie auch mehr Erneuerbare wünschen. Und zwar in einem noch höheren Ausmaß als die Atomkraft.