Corona hat Lage von Analphabeten verschärft
dpa/lsw Stuttgart. Schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt, Probleme auf dem Amt und beim Ausfüllen von Formularen - Menschen werden im Alltag stark eingeschränkt, wenn sie nicht richtig lesen und schreiben können. Corona hat die Lage weiter verschärft, warnen Experten.
Homeschooling, Online-Seminare, Shopping per Mausklick: Seit der Corona-Pandemie ist der Alltag für Menschen in Baden-Württemberg erheblich digitaler geworden. Das ist praktisch für viele, es macht allerdings unter anderem denen das Leben schwerer, die Probleme haben beim Lesen und Schreiben. Diese sogenannten funktionalen Analphabeten sehen oft wenig mehr als einen bunten Buchstabensalat auf dem Bildschirm.
Durch die Monate im Lockdown und das zunehmende digitale Angebot dürfte sich vor allem die Zahl junger Menschen mit solchen Probleme erhöhen, warnen Experten. „Die soziale Selektivität wird durch die Corona-Pandemie sicher verschärft werden“, sagte Josef Schrader vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE) am Montag in Stuttgart.
Nicht wenigen geht es bereits heute so: Bundesweit können rund 6,2 Millionen der erwerbsfähigen Erwachsenen nicht richtig schreiben, lesen und rechnen sowie keine zusammenhängenden Texte aufnehmen. Statistisch gesehen wohnen rund 750 000 von ihnen in Baden-Württemberg.
Die frühere Speerwurf-Weltmeisterin Christina Obergföll will Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, Mut zusprechen und das Problem aus der Tabuzone holen. „Für mich ist es unvorstellbar, in einer solchen Situation zu stecken und das Schreiben und Lesen nicht ausreichend zu beherrschen“, sagte sie in Stuttgart. Als neue Botschafterin des Landes für die Alphabetisierung und Grundbildung werde sie an den Durchhaltewillen der Betroffenen appellieren, sagte die 40-Jährige aus Hohberg (Ortenaukreis). „Ich bin auch nicht aufgestanden als kleines Mädchen und war direkt Weltmeisterin“, sagte Obergföll, Weltmeisterin von 2013. „Und ich war auch jahrelang ewige Zweite und habe mich davon nicht runterkriegen lassen.“
Sie ist nach Angaben des Kultusministeriums eine von bundesweit drei Prominenten, die sich im Auftrag von Bundesländern um dieses Thema kümmern. In Hessen setzt sich der ehemalige Turnweltmeister Fabian Hambüchen ein, in Bayern ist der Profibergsteiger und Extremkletterer Alexander Huber ein Ansprechpartner.
Viele funktionale Analphabeten wurschteln sich mehr oder weniger durch ihren Alltag. „Um in Beruf und Alltag zurechtzukommen, brauchen Personen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten viel Energie und Phantasie“, sagt Knut Becker von der Fachstelle für Grundbildung und Alphabetisierung Baden-Württemberg in Stuttgart. Die meisten hätten sich ausgeklügelte Strategien ausgedacht, um ihr Problem in der Schule, am Arbeitsplatz, im Sportverein, beim Einkaufen, beim Arztbesuch und auch im Familien- oder Freundeskreis überspielen zu können.
Allerdings haben Corona-Pandemie und Digitalisierung die Situation vieler noch komplizierter gemacht. Ob Online-Anmeldung für einen Impftermin oder das Einchecken mit einer App im Lieblingscafé - wer nicht richtig lesen und schreiben kann, muss nun zusätzliche Hürden meistern. Und für Analphabeten kann bereits die Bedienung eines Mobiltelefons zum Problem werden. „Eine wirkliche Teilhabe an der Gesellschaft ist so kaum möglich“, heißt es dazu im Ministerium.
Auch Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) warnte vor den Folgen: „Corona hat einmal mehr offenbart, wie wichtig es ist, Erwachsene mit unzureichenden Fähigkeiten im Lesen und Schreiben und einer geringen Grundbildung zu unterstützen.“ Nach einer Untersuchung der Stiftung Lesen haben fast 40 Prozent der Betroffenen angegeben, wichtige Informationen zu Corona nicht nachvollziehen zu können.
Ziel des Einsatzes von Obergföll ist es auch, die Attraktivität der acht sogenannten Grundbildungszentren zu erhöhen, die vom Land gefördert werden. In diesen Anlaufstellen werden Betroffene niederschwellig angesprochen, dort können sie sich auch in Kursen weiterbilden.
Die Präsenzkurse für Analphabeten hätten aber wegen der Corona-Auflagen seit Beginn der Pandemie für lange Zeit nicht stattfinden können, das machte die Bedingungen noch schwerer. Andere könnte das Online-Angebot allerdings auch zum Lernen motiviert haben. Denn vor allem im ländlichen Raum sind weite Wege oder ein fehlender Führerschein wegen der digitalen Alternative kein Hindernis mehr für eine Kursteilnahme.
„Je länger die Corona-Krise andauerte, umso mehr konnten sich die Kurse und Teilnehmenden auf den Online-Bereich einstellen, so dass Videokonferenzen und Online-Unterricht ebenso immer besser möglich wurden“, ergänzt das Kultusministerium. Es zeichne sich ab, dass Kurse mit sogenanntem Blended-Learning-Unterricht - also im Wechsel Online und Präsenz - für die Alphabetisierung und Grundbildung viele Vorteile hätten. Unter anderem könnten einzelne Teilnehmer direkt und besser gefördert werden.
DIE-Experte Schrader schränkte allerdings ein, es werde nur ein kleiner Teil der Betroffenen über die Kurse erreicht. Gleichzeitig würden die Potenziale der digitalen Medien noch nicht ausreichend genutzt. Es müsse aber nach einer Studie davon ausgegangen werden, dass pro Jahr rund 15 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine Schule verlassen, obwohl sie nur schwach lesen könnten. „Das muss gelernt werden. Schule schafft nicht immer die notwendigen Grundlagen“, sagte er.
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