Frühjahrserwachen beim BVB
Während in der Hinrunde das Glück regelmäßig aufseiten der Borussen stand, geht jetzt eine gewisse Ratlosigkeit in Dortmund um
Entzaubert - Bundesliga-Tabellenführer Borussia Dortmund verspielt in einer Woche drei sicher geglaubte Siege. Die Konkurrenz erhält Anschauungsunterricht, wie und wo der BVB verwundbar ist.
Dortmund Es war eine Art Schockzustand, in dem die Dortmunder sich am Samstagabend befanden, die Gesichter waren ernst, die Blicke leer. Beistand und Trost hätte ihnen in diesen Momenten gutgetan. Aber Julian Nagelsmann, dessen Sympathien für den FC Bayern München kein Geheimnis sind, rührte in der Wunde, die dieses 3:3 (2:0) des Tabellenführers gegen 1899 Hoffenheim hinterlassen hat. „Das war nicht glücklich für uns, das war eher glücklich für Dortmund“, behauptete der Trainer der Gäste aus Baden, nachdem seine Mannschaft innerhalb von einer Viertelstunde einen hoffnungslosen 0:3-Rückstand aufgeholt hatte. Sein Team habe „die Chancenqualität für fünf oder sechs Tore“ gehabt, fuhr Nagelsmann fort und entzauberte damit die Legende von dem „tollen Spiel“, das die Dortmunder in den Augen von BVB-Assistenztrainer Manfred Stefes bis zur 75 Minute angeblich gemacht hatten.
Zwar hatte Jadon Sancho zauberhaft gespielt, das 1:0 hatte er selbst geschossen (32.), das 2:0 des starken Mario Götzes hatte er vorbereitet (43.) und Raphael Guerreiros 3:0 (66.) mit einem hübschen Hackentrick eingeleitet. Aber eigentlich demontierten die Hoffenheimer den BVB in der gesamten zweiten Hälfte wie noch kein Team zuvor im laufenden Spieljahr. Es war kein glückliches Unentschieden, sondern ein Spielergebnis, das viel mit den zuletzt immer wieder sichtbaren Defensivschwächen der Dortmunder zu tun hat. Der Titelkandidat befindet sich in der bislang schwierigsten Phase dieser Erfolgssaison.
Den klarsten Blick auf die Lage hatte Axel Witsel, der diese Woche der Enttäuschungen in den Gesamtkontext der Saison setzte. „Wir hatten verrückte und sehr positive sechs, sieben Monate, jetzt haben wir eben eine Woche, in der wir dreimal nicht gewonnen haben“, stellte der Belgier nüchtern fest. Etliche Hinrundenerfolge kamen mit einer gehörigen Portion Glück zustande – Witsel weiß genau, dass dieser Beistand des Fußballgottes nur selten über eine gesamte Saison hilft.
Und vielleicht ist so eine Krise in dieser Phase der Saison sogar besser verkraftbar als irgendwann im Frühjahr, wenn die Schäden nicht mehr reparabel sind. Wobei die Aura der Stärke und die souveräne Ausstrahlung, die das Team während der ersten Saisonhälfte umgaben, nachhaltig beschädigt sind. Gegen Eintracht Frankfurt haben sie eine 1:0-Führung verspielt, gegen Werder Bremen im Pokal führten sie 2:1 und 3:2, am Ende schied das Team trotzdem aus dem Wettbewerb aus. Nun haben sie ein komfortables 3:0 aus der Hand gegeben, das Team verliert regelmäßig ganz zum Schluss die Kontrolle.
Diese dunkle Serie wirft die Frage auf, ob das Problem womöglich so grundlegend ist, dass es sich von den Einzelpartien auf die Gesamtsaison übertragen lässt. Beginnt der BVB mit dem Atem der Bayern im Nacken folgenschwere Fehler zu produzieren? Der ganze Defensivverbund wirkte instabil, Mahmoud Dahoud, Abdou Diallo und Achraf Hakimi agierten immer wieder unsicher, zwei Gegentreffer fielen nach Standardsituationen, und die seien „immer auch eine Mentalitätssache“, so Nagelsmann. Hinzu kommt, dass kommende Gegner in diesen Tagen der vergebenen Chancen Anschauungsunterricht zu den Strategien bekamen, mit denen sich Dortmunder Schwächen entblößen lassen.
In der ersten Saisonhälfte hieß es immer, man müsse gegen den BVB tief verteidigen, mit einer Fünferkette und engen Räumen rund um den eigenen Strafraum könne man die Angriffswellen brechen. Wirklich wehgetan haben dem Tabellenführer nun mutige Gegner. „Wir haben naiv verteidigt und die entscheidenden Duelle verloren“, sagte Assistenztrainer Stefes, der den grippekranken Chef Lucien Favre gemeinsam mit dem zweiten Assistenten Edin Terzic vertrat.
Die beiden Fußballlehrer versicherten, dass die Abwesenheit des Schweizers keine Rolle gespielt habe, es gab während der Partie telefonischen Kontakt. Doch womöglich hätte der Schweizer mit all seiner Erfahrung und seiner Autorität in der wilden zweiten Halbzeit doch ein paar hilfreiche Impulse setzen können. „Normalerweise müssen wir in der Lage sein, so ein Spiel zu managen, aber wir haben in der zweiten Halbzeit nicht mehr so die Kontrolle über den Ball gehabt“, sagte Witsel, der sonst immer als Chefkontrolleur in Erscheinung tritt.
Auch er machte einen etwas ratlosen Eindruck. Sebastian Kehl plädierte dennoch für einen gelassenen Umgang mit der Situation: „Wir haben im Erfolgsfall die Ruhe bewahrt und werden auch jetzt die Ruhe bewahren“, sagte der Leiter der Lizenzspielerabteilung. Vielleicht fangen die Dortmunder sich wirklich schnell wieder, allerdings hat die gesamte Fußballnation in dieser Woche die verletzliche Seite dieses in der ersten Saisonhälfte noch so hymnisch gefeierten BVB kennengelernt.