Fünfjähriges Mädchen zu Tode geprügelt
Alten Kriminalfällen auf der Spur: Die kleine Maria aus Italien wird in Sulzbach an der Murr aus nichtigen Gründen von den Eltern, meist vom Stiefvater, mit einem Gürtel und einer Stahlrute traktiert. Im Januar 1967 stirbt sie an den Folgen der Schläge.
Von Hans-Christoph Werner
SULZBACH AN DER MURR. Das kleine Mädchen ist ein Jahr alt, als es ins Kinderheim kommt, weil die Mutter von Italien als Gastarbeiterin nach Deutschland geht. Und es ist fünf Jahre alt, als es die Mutter nachholt, nach Sulzbach an der Murr. Aber das halbe Jahr in Deutschland wird für das Kind zu einer Zeit des Leidens. Weil es angeblich nicht gehorchen will, zieht der Stiefvater des Mädchens eines Tages eine Stahlrute hervor.
Irgendwie muss Georg K. (alle Namen geändert) die Erwartung gehabt haben, dass die fünfjährige Maria, kaum im anderen Land, auch die Sprache ihrer neuen Heimat beherrschen würde. Geduldiges Eingehen auf die Lernfähigkeiten des Mädchens ist offenbar nicht sein Ding gewesen. Maria muss im Handumdrehen die deutschen Worte lernen. Wenn sie das, auf was der Stiefvater deutet, nicht sofort mit dem deutschen Wort bezeichnen kann, setzt es Schläge.
Gerichtsmediziner zählen anhand der Verletzungen 40 Schläge.
Aber das ist nicht die einzige Gelegenheit, zu der das Mädchen gezüchtigt wird. Georg K. hat keine Scheu, auch in Gegenwart anderer seine Stieftochter zu bestrafen oder sich abfällig über sie zu äußern. Insofern sind die Zeugenaussagen in dem späteren Gerichtsverfahren gegen das Ehepaar K. maßgeblich für die Beurteilung der beiden Angeklagten. In der Urteilsbegründung ist später zu lesen: „Die die Angeklagten belastenden Zeugen S. und B. haben in der Hauptverhandlung einen zuverlässigen und glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Es bestand der Eindruck, dass sie gewissenhaft bemüht waren, die Angeklagten nicht zu Unrecht zu belasten. (...) Das Schwurgericht ist von der Richtigkeit und Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen voll überzeugt.“
Aufgrund dieser Zeugenaussagen sowie aufgrund der Zeugenaussagen der Schwester der Angeklagten soll das Ehepaar K. Folgendes der kleinen Maria angetan haben: Mindestens siebenmal wurde das Mädchen, weil es die deutschen Worte nicht wusste, geschlagen. Leicht bekleidet musste sie die Arme über dem Kopf halten und strammstehen. Bewegte sie sich, setzte es Schläge mit dem Gürtel. Mindestens viermal erzwang der Stiefvater durch Schläge die Aussage „Papa hat das Kommando“. Mit Ziehen an den Haaren, Schlägen ins Gesicht und Fußtritten wurde die Aussage „Papa schlägt gut“ erzwungen.
Bei anderen Gelegenheiten äußert sich Georg K. abfällig über seine Stieftochter. Maria „bekommt Schläge, bis sie spurt oder verreckt“. Ilona K., die Mutter von Maria, wehrt sich nicht gegen solche Erziehungsmethoden ihres Ehemanns. Im Gegenteil, sie macht kräftig mit. Auch ihre „Erziehungsmaßnahmen“ werden später in der Gerichtsverhandlung aufgelistet. Mindestens siebenmal schlägt sie aus nichtigen Anlässen das Mädchen mit allem, was sie greifen kann: mit Hausschuhen, mit einem Gürtel, mit einem Schöpflöffel. Einmal drückt sie den Kopf des Mädchens in einen Wassereimer. Ein anderes Mal befördert sie das Mädchen durch eine Ohrfeige zu Boden, kniet dann auf ihr und sagt: „Dich bringe ich noch einmal um.“ Zweimal sperrt sie das Kind für Stunden in eine Abstellkammer, ja eine ganze Nacht muss sie darin verbringen. Drei Tage lang gibt sie dem Mädchen nichts zu essen. Dreimal wird das Kind an den Füßen aufgehängt.
Am 26. Januar 1967 bekommt der Stiefvater mit, dass sich eine Mitbewohnerin des Mehrfamilienhauses über Maria beschwert hat. Das Kind bettele um Schokolade und werfe Dinge in das Etagenklosett, so die Hausbewohnerin. Georg K. rastet aus. Er holt eine Stahlrute (Totschläger) hervor und drischt auf das Mädchen ein. Insgesamt 40 Schläge können die Gerichtsmediziner anhand der Verletzungen später ausmachen. Die Mutter wird Zeugin der Strafaktion und duldet sie. Über Nacht lassen sie das Kind im Wohnzimmer liegen. Am übernächsten Tag stellen die Eltern bei Maria Fieber, Schwindel und Apathie fest. Am Nachmittag verstirbt das Mädchen. Einem hinzugerufenen Arzt erzählen die Eltern, das Kind sei aus dem Auto gefallen, aber der Arzt ruft die Polizei. Die Obduktion des toten Mädchens ergibt, dass der Tod durch eine Fettembolie, hervorgerufen durch die massiven Schläge, eintrat. Das Versagen von Nierenfunktion, Kreislauf und Atmung wirkte zusammen.
Gegenüber dem Haftrichter gibt Georg K. die Schläge gegen Maria zu. Eine Woche später widerruft er sein Geständnis. Von da an beschuldigen sich die Eheleute gegenseitig. Mit der Stahlrute habe, so Georg K., seine Frau auf das Kind eingeschlagen. Wenn er das Mädchen schlug, tat er es nur auf Veranlassung seiner Ehefrau. Ilona K. wiederum will nicht bemerkt haben, dass Maria geschlagen wurde. Und wenn sie’s bemerkt habe, sei sie nicht eingeschritten, weil sonst sie von ihrem Ehemann geschlagen worden wäre. Nur einmal will Ilona K. das Mädchen in die Abstellkammer gesperrt haben.
Im Oktober und November 1967 müssen sich die Eltern K. vor dem Landgericht verantworten. Am 2. November wird Georg K. zu lebenslangem Zuchthaus (wie es damals hieß), Ilona K. zu vier Jahren verurteilt. Die Schwurgerichtskammer führt aus: „Aufgrund der überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. L. in Verbindung mit dem persönlichen Eindruck in der Hauptverhandlung war davon auszugehen, dass der Angeklagte Georg K. zur Zeit der Begehung sämtlicher Straftaten strafrechtlich voll verantwortlich war (...). Bei ihm handelt es sich um eine gemütskalte, zu brutal-sadistischer Handlungsweise neigenden Persönlichkeit.“ Das Gericht verneint, dass der Angeklagte im Affekt gehandelt haben könnte. Bei der Angeklagten Ilona K. wiederum handelt es sich nach einem Gerichtsgutachten um „eine debil-triebhafte, infantile und primitiv strukturierte Grundpersönlichkeit, die ihrem sadistischen Mann hörig und in einer Art Hass-Liebe verbunden war“.
Georg K. kommt 1986 auf Bewährung aus dem Gefängnis frei.
Während der Haftzeit der Verurteilten wird die Ehe der Einsitzenden geschieden. Ilona K. wird im Jahr 1970 entlassen. Im September 1971 wendet sich der verurteilte Georg K. mit einem 350 Seiten starken sogenannten Gnadengesuch an Ministerpräsident Filbinger. In diesem Gnadengesuch leugnet Georg K. seine Tatbeteiligung und unterstellt seiner Ex-Frau, die Tochter erwürgt zu haben. Das Gnadengesuch wird von der Staatsanwaltschaft aber als Wiederaufnahmeantrag für ein neues Gerichtsverfahren gewertet, dann aber abschlägig beschieden. Georg K. lehnt es während seiner Haftzeit ab, einen Beruf zu erlernen. Er arbeitet in der Polsterei der Haftanstalt. Ihm wird gute Arbeit bescheinigt. Mehrmals wird er während seiner Haftzeit allerdings gemaßregelt. Schnell gerät er in Rage und legt sich mit dem Gefängnispersonal an. Dem Einsitzenden wird attestiert: „Eine leicht reizbare, unbeherrschte, egozentrische Persönlichkeitsstruktur mit herabgesetzter Frustrationstoleranz.“ Ein Psychiater stellt im Jahr 1981 fest, dass im Vergleich zur Tatzeit bei dem Einsitzenden eine positive Persönlichkeitsentwicklung nicht stattgefunden habe.
Georg K.s Antrag auf vorzeitige Entlassung wird im Jahr 1983 „aufgrund der Schwere der Schuld“ abgelehnt. Er kommt erst im November 1986 auf Bewährung frei.
Georg K. ist Jahrgang 1944. Nach der Schulzeit hatte er eine Bauschlosserlehre begonnen, diese aber dann abgebrochen. Er arbeitete fortan als Baggerführer. 1963 lernt er die damals 22-jährige italienische Gastarbeiterin Ilona kennen. Zwei Jahre später heiraten die beiden. Zwei Kinder werden dem Ehepaar geschenkt, ein Sohn und eine Tochter. Mitte des Jahres 1966 müssen sich die Eheleute entschlossen haben, die Tochter Maria der Ehefrau aus dem Kinderheim in Italien nach Deutschland zu holen. Im August 1966 kommt das Mädchen in Sulzbach an. Die Tante der kleinen Maria kommt mit. Sie kümmert sich um die Kinder der Familie, da Ilona K. einer Arbeit nachgehen will.