„Für Ärztin bestand keine konkrete Lebensgefahr“

Gutachterin relativiert vor dem Landgericht die Folgen der Attacke eines 31-Jährigen auf eine 61-jährige Medizinerin im ZfP Winnenden.

Das Landgericht Stuttgart verhandelt derzeit gegen einen 31-Jährigen aus Waiblingen, der gegenüber seiner Mutter, seiner Ärztin und  seinem Pfleger gewalttätig wurde.Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Das Landgericht Stuttgart verhandelt derzeit gegen einen 31-Jährigen aus Waiblingen, der gegenüber seiner Mutter, seiner Ärztin und seinem Pfleger gewalttätig wurde.Foto: Alexander Becher

Von Heike Rommel

Winnenden/Stuttgart. Im Landgerichtsprozess um den versuchten Totschlag eines Patienten aus Waiblingen an einer Ärztin des Zentrums für Psychiatrie Winnenden (wir berichteten) hat die Gerichtsmedizinerin gesprochen: Dem Gutachten zufolge bestand bei der Ärztin keine konkrete, sondern eine abstrakte Lebensgefahr, nachdem der Patient auf sie losgegangen war.

Die Tübinger Gerichtsmedizinerin Adina Schweickhardt hat das Opfer im Katharinenhospital Stuttgart untersucht und von der Polizei fotografieren lassen. Sie hatte auch eigene Fotos von den Verletzungen der 61-Jährigen zur Verfügung. Der Vorsitzende Richter der Schwurgerichtskammer, Norbert Winkelmann, führte alle Bilder als Beweismittel in die Verhandlung ein.

Die Rechtsmedizinerin kam zu dem Ergebnis, dass die Ärztin von der Augenhöhlenfraktur keine inneren Blutungen im Kopf hatte und deshalb keine konkrete Lebensgefahr vorlag. Sie konnte auch nicht auf zwei, sondern lediglich auf einen Fußtritt schließen, den das Opfer in die Körperseite abbekommen haben muss. Punktuelle Rötungen im Gesicht führte die Sachverständige teilweise auf das Tragen einer FFP2-Maske und nicht auf die sichergestellten Turnschuhe des 31-jährigen Angeklagten zurück. Die Ärztin hatte bei der Gutachterin angegeben, sie habe „Blitze gesehen“. Diese Beeinträchtigung des Sehvermögens könnte es nach deren Einschätzung beim Heilungsprozess vom Schlag aufs Auge gegeben haben. Eine Augenlichtsprognose zu stellen, halte sie für schwierig. Die von der Ärztin beschriebenen „Beschwerden beim Spargelschneiden“ schienen ihr plausibel, da sich die Frau das Handgelenk gebrochen hatte.

Ein Kriminalbeamter aus Waiblingen, der bei der Untersuchung im Katharinenhospital dabei war, führte als Zeuge aus, auf ihn habe die Ärztin einen stabilen Eindruck gemacht. Sie sagte, so einfach würde sie das nicht wegstecken. Sie fühle sich nicht mehr in der Lage, auf der Akutstation im ZfP Winnenden weiterzuarbeiten.

Ein 35-jähriger Krankenpfleger berichtete, wie er den im Isolierzimmer fixierten Angeklagten, der an paranoider Schizophrenie leidet, durch die Sichtscheibe bewacht habe. In der zweiten Nacht sei nur noch die Tür abgeschlossen gewesen, der Patient habe im Zimmer herumgehen dürfen. Bei der Übergabe einer Zigarette, um die der Angeklagte ihn gebeten habe, habe er dessen Faust direkt auf die Schläfe bekommen, erklärte der Pfleger. „Ich habe den Alarm ausgelöst und gehofft, dass er flüchtet, aber das wollte der gar nicht“, berichtete er. Der Pfleger schloss sich aus Angst im Dienstzimmer ein, bis Helfer von anderen Stationen den Mann wieder eingesperrt und fixiert hatten.

Die Frage des Richters, ob so etwas wie mit dem Angeklagten häufig passiere, bejahte der Pfleger. Zu zweit mit dem Angeschuldigten ging es ihm ähnlich wie der Ärztin: Er hätte nicht gedacht, dass ein Übergriff kommt, denn vorher hätte er sich mit dem Waiblinger gut verstanden. Wie der Beschuldigte vorläufig in die Weissenau und damit in den Maßregelvollzug für psychisch kranke Straftäter kam, will das Gericht am 30. Juni mit der Verlesung der Unterbringungsprotokolle erhellen. Das psychiatrische Gutachten über den Waiblinger, der sich auch wegen gefährlicher Körperverletzung an seiner 53-jährigen Mutter verantworten muss, soll am 5. Juli Barbara Stitzel vom ZfP Ravensburg-Weissenau vortragen.

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Erstellt:
15. Juni 2022, 16:00 Uhr

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