Fund in Südengland
Gab es einen Zwilling von Stonehenge?
Die Erbauer von Stonehenge könnten die Ur-Version ihres berühmten Monuments kopiert haben – von einer Kreisgrabenanlage an der südenglischen Küste. Das 100 Meter große Flagstones-Monument war ein Zwilling des frühen Stonehenge, entstand aber knapp 300 Jahre früher.

© © Jennie Anderson
Die Rekonstruktion zeigt die Kreisgrabenanlage von Flagstones in Südengland. Sie könnte das Vorbild für die Anfänge von Stonehenge gewesen sein.
Von Markus Brauer
Vor rund 6500 Jahren wurden die ersten rituellen Bauwerke der Megalith-Kultur errichtet. Jungsteinzeit-Forscher haben rund 35.000 Megalith-Objekte allein in Europa gezählt. Die Erbauer hinterließen monumentale Bauwerke: Steinkreise wie in Stonehenge, kilometerlange Menhirreihen wie in Carnac oder gewaltige Dolmen – also kammerartige Großsteingräber mit massiven Deckplatten.
Wie die steinzeitlichen Ingenieure es schafften, die tonnenschweren Steine von ihren teilweise hunderte Kilometer entfernten Ursprungsorten zu transportieren und aufzustellen, bleibt bis heute ein Rätsel.
Monumente wie von Zyklopen-Hand erschaffen
Die Monumente liegen in Skandinavien, auf den britischen Inseln, in der Bretagne, in Nord- und Südspanien, auf Korsika und Sardinien sowie in Süditalien, auf Malta, in Anatolien und Peru.
Die Jungsteinzeit war eine Ära der kultischen Megalith-Monumentalbauten. Anfangs dominierten Ganggräber und gerade Steinreihen, später begannen die Erbauer, riesige ringförmige Anlagen zu errichten.
Anfangs bestanden sie aus Ringgräben, Erdwällen und Pfostenpalisaden, wie die Kreisanlage von Durrington Walls in Südengland, die Ur-Version von Stonehenge oder das Sonnenobservatorium von Goseck in Sachsen-Anhalt demonstrieren. Im Verlauf der Megalith-Kultur wurden einige dieser Ringheiligtümer dann zu gewaltigen Steinkreisen ausgebaut.
Flagstones: Großbritanniens ungewöhnliches Megalith-Monument
Eine der größten kreisrunden Anlagen Großbritanniens ist Flagstones an der südenglischen Küste. Dieses zyklopische Bauwerk liegt inmitten eines älteren Monumentkomplexes, zu dem Ganggräber und kleinere, runde Grubenwerke gehören.
Flagstones hat einen Durchmesser von 100 Metern und besteht aus einem perfekt kreisförmigen, in Segmente unterteilten Ringgraben, der einst von aus Kalkbrocken aufgetürmten Wällen gesäumt gewesen sein könnte. Im Graben wurden mehrere dort bestattete Tote sowie Asche von verbrannten Toten gefunden.
„Flagstones ist ein ungewöhnliches Bauwerk“, schreibt Susan Greaney von der University of Exeter in einer im Fachjournal „Antiquity“ veröffentlichten Studie. „In einigen Aspekten ähnelt es den früheren, viel kleineren Grubenwerken, in anderen sieht es bereits aus wie die später entstandenen Henges.“
Revidierte Chronologie
Doch wann entstand Flagstones? Greaney und ihr Forscherteam haben neue Proben menschlicher Überreste, Tierknochen und anderer organischer Relikte vom Fundort entnommen und sie mithilfe der Radiokarbonmethode datiert.
„Die revidierte Chronologie verschiebt Flagstones in eine frühere Periode als wir erwartet hatten“, schreibt Greaney. Demnach wurden die ersten Gräben der Kreisanlage schon um 3650 v. Chr. ausgehoben. Fertiggestellt wurde der Ring dann um 3200 v. Chr. Zu dieser Zeit wurden auch die ersten Toten im Graben bestattet.
Älteste große Kreisgrabenanlage auf der britischen Insel
Flagstones ist damit die älteste große Kreisgrabenanlage auf der britischen Insel. Sie wurde fast zeitgleich mit großen Ganggräbern wie Newgrange in Irland erbaut, wie die Archäologen schreiben.
Die monumentale und perfekt kreisförmige Ringform von Flagstones leitete damit eine Innovation ein. „Die Chronologie von Flagstones ist essenziell, um die sich verändernde Abfolge der zeremoniellen Bauwerke und Grabanlagen in Großbritannien zu verstehen“, erklärt Greaney.
War Flagstones Vorbild für Stonehenge?
Dies wirft auch neues Licht auf das berühmteste Steinzeit-Monument Englands: Stonehenge. „Stonehenge ist das Schwester-Monument von Flagstones, denn in seiner erste Bauphase war es nahezu identisch“, erläutert Greaney.
Auch Stonehenge begann als Ring aus segmentierten Gräben und Holzpfosten und auch dort wurde anfangs die Asche von Toten in den Gräben deponiert. Dieser Ur-Keim des späteren Steinkreises wird auf die Zeit um 2900 v. Chr. datiert.
„Flagstones ist demnach bis zu 285 Jahre älter als Stonehenge. Das ist angesichts der großen Ähnlichkeiten beider Monumente überraschend“, konstatieren die Archäologen. „Könnte Stonehenge eine Kopie von Flagstones gewesen sein?“
Ob die Erbauer von Stonehenge bei ihren Nachbarn an der Südküste Englands „abguckten“ lässt sich heute nicht mehr klären. „In jedem Fall begründeten beide Kreisanlagen und ihre Bestattungen aber eine neue Monumenttradition in ihrer lokalen Umgebung“, schreiben die Forscher.
Warum wurde Flagstones aufgegeben und gemieden?
Während Stonehenge noch tausende Jahre lang genutzt und immer wieder umgebaut wurde, war dies bei Flagstones nicht der Fall. „Der Mangel an spätneolithischem Material in Flagstones deutet darauf hin, dass dieser Ort nicht nur unverändert blieb, sondern sogar gemieden wurde“, berichten die Archäologen. Warum die Ringanlage nach nur wenigen Jahrhunderten wieder aufgegeben wurde, ist nicht bekannt.
Stattdessen erbauten die Menschen ab etwa 2600 v. Chr. nur wenige Kilometer entfernt ein neues Heiligtum: den „Superhenge“ Mount Pleasant. Diese ovale Kreisgrabenanlage ist an ihrer langen Achse rund 370 Meter groß und bestand aus einem Kreisgraben, Erdwällen und einem hölzernen Palisadenring.
Info: Zeitalter der Megalth-Kultur
Megalith-KulturSchon vor rund vor 6500 Jahren wurden die ersten rituellen Bauwerke der Megalith-Kultur errichtet. Die Jungsteinzeit-Forscherin Bettina Schulz Paulsson von der Universität Göteborg rund 35.000 Megalith-Objekte fest. Die untersuchten Monumente liegen in Skandinavien, auf den britischen Inseln, in der Bretagne, in Nordspanien, Korsika und Sardinien sowie in Süditalien, auf Malta und in Anatolien. Doch auch anderswo auf der Welt gibt es steinzeitliche Megabauten:
SibirienEiszeitliche Jäger in Sibirien errichteten vor 25 000 Jahren kreisrunde Bauten aus Mammutknochen – etwa nahe der russischen Stadt Kostjonki.
Saudi-Arabien In der Nefud-Wüste auf der arabischen Halbinsel bauten Menschen vor rund 10 000 Jahren kilometerlange Wildtierfallen aus große Steinreihen – die sogenannten Wüstendrachen (englisch: Desert Kite). Archäologen haben hunderte dieser Jagdbauten aus Megalithen ausfindig gemacht. Satellitenbilder enthüllten sternförmige Steinkreise, künstlich aufgeschichtete Steinhügel und sogenannte Mustatil-Bauten – rechteckige, von Mauern begrenzte Strukturen, die wohl der Jagd von Wildtiere wie etwa Gazellen dienten.
TürkeiIn Südanatolien entstanden zur gleichen Zeit die Steinkreise von Göbekli Tepe, die bei der heutigen türkischen Stadt Şanlıurfa liegt.
Deutschland In der Mecklenburger Bucht legte eine Jäger-und-Sammler-Gemeinschaft vor mehr als 10 000 Jahren einen fast einen Kilometer langen steinernen Wall an. Dieser sogenannte Blinkerwall könnte den damaligen Jägern und Sammlern geholfen haben, Rentiere zu erbeuten.
PeruDie ältesten monumentalen Anlagen in Peru sind rund 5300 Jahre alt und bestehen aus riesigen, aus Geröll und Erde aufgeschütteten künstlichen Plattformen. „Etwa ab 3000 vor unserer Zeit wurden diese Monumentalbauten von einem oder mehreren eingetieften kreisförmigen Plazas begleitet“, erklärt Jason Toohey von der University of Wyoming. Die Reste des rund 18 Meter großen Steinkreises aus Megalithen befindet sich bei Fundstätte Callacpuma. Laut dem Spatenforscher wird die runde Anlage von zwei konzentrischen Ringen aus unbehauenen Großsteinen gebildet, die senkrecht und eng beieinander aufgestellt wurden.