Geschichten einer Überlebenden des Holocausts

Die 95-jährige Autorin Ruth Michel-Rosenstock berichtet im Kreisberufsschulzentrum von ihren traumatischen Erlebnissen in der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocausts. In der anschließenden Diskussion bezieht sie auch politisch klar Stellung.

Die Kapitel aus Ruth Michel-Rosenstocks Leben hinterlassen bei den Schülerinnen und Schülern großen Eindruck. Foto: Alexander Becher

© Alexander Becher

Die Kapitel aus Ruth Michel-Rosenstocks Leben hinterlassen bei den Schülerinnen und Schülern großen Eindruck. Foto: Alexander Becher

Von Klaus J. Loderer

Backnang. Still war es in der Aula des Kreisberufschulzentrums, als Ruth Michel-Rosenstock ein dramatisches Kapitel aus ihrer Jugendzeit erzählte. Gebannt lauschten die Schülerinnen und Schüler der Beschreibung eines Massenmords, der sich 1941 in der heutigen Ukraine zutrug. „Ich bin eingeladen, um Ihnen vom nationalsozialistischen Terror zu erzählen. Ich tue es, um den Ermordeten eine Stimme zu geben“, begründete die Zeitzeugin ihren Auftritt in Backnang.

Das Angebot für ein Gespräch mit einer Zeitzeugin des Dritten Reichs sorgte für so große Nachfrage, dass sogar noch eine weitere Veranstaltung zu füllen gewesen wäre. So waren beide Termine am gestrigen Vormittag voll besetzt. Wolfgang Waigel ging als Schulleiter der Eduard-Breuninger-Schule auf die unerwartete Aktualität des Themenbereichs Antisemitismus ein.

Ruth Michel-Rosenstock, der man die 95 Jahre nicht ansieht, las aus ihrem Buch „Die Flucht nach vorne“. Für die Familie Rosenstock wurde das Leben in Königsberg mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler gefährlich. Deshalb zog sie 1935 um zur Großmutter nach Mykulytschyn, die dort eine angesehene Bürgerin der jüdischen Gemeinde war, da in ihrem Garten eine der beiden Synagogen des Ortes stand. Der südlich von Lemberg (Lwiw) gelegene Ort in den Waldkarpaten gehörte damals zu Polen, wurde 1939 von der Sowjetunion und 1941 von Deutschland besetzt. Für die jüdischen Bewohner hatte das durch die schnell beginnenden Schikanen dramatische Auswirkungen. Eine von der Gestapo durchgeführte Razzia veränderte das Leben komplett. Auch Aaron Rosenstock, der jüdische Vater Ruths, wurde verhaftet und mit mehr als 200 Juden zu einem Massengrab im Wald gebracht. Dort wurden all diese Menschen ermordet.

„Die Welt schaute zu. Die Alliierten hatten keine Bomben übrig, um die Gleise nach Auschwitz zu bombardieren,“ schloss die Autorin. Die Gelegenheit zu Fragen ließ sich das Publikum nicht nehmen. Nach der ersten Lesung ging es vor allem um die Fortsetzung der Geschichte, wie es ihr denn weiter ergangen sei. Auch das war spannend. Ein dramatischer Punkt war der missglückte Versuch der Gestapo, Ruth und ihrer Schwester habhaft zu werden.

Die Familie fühlt sich nirgendwo erwünscht

Ruth war nun daran gereift, sich um Mutter und Schwester kümmern zu müssen. Mit der Mutter gelang dann auf abenteuerlichen Wegen die Rückkehr nach Königsberg zur evangelischen Großmutter. Als Halbjüdin war Ruth weiter gefährdet, aber sie konnte sich durchmogeln. Mit der Besetzung durch die Rote Armee kamen ihr die Russischkenntnisse zugute.

Doch auch in Königsberg konnte die Familie nicht bleiben. Als heimatvertriebene Ostpreußen kamen Ruth und ihre Mutter nach Hessen. Die Aufnahme fand sie nicht gut: „Die Flüchtlinge waren hier nicht gewollt.“ Was sie auch stört: „Deutsche aus dem Osten hatten oft das Gefühl, dass sie allein für den Krieg verantwortlich gemacht werden.“ Mit ihrem Mann kam Ruth Michel schließlich nach Leinfelden.

Bei der Diskussion im Nachgang prallen unterschiedliche Ansichten aufeinander

Einige Fragen bezogen sich auch auf die Entstehung des Buchs. Erst nach dem Tod ihres Mannes machte sie sich daran, die Erinnerungen aufzubereiten, um das Vergessen zu verhindern, denn „es hat niemanden interessiert, was mit den Juden passiert ist“. So entstanden das Buch und ihre Bereitschaft, jungen Menschen aus ihrem Leben zu erzählen. „Zehn Jahre habe ich an dem Buch geschrieben. Ich hatte ja nie deutschen Schulunterricht.“

Das Publikum fand die Geschichte so spannend, dass es immer an der weiteren Fortsetzung interessiert war. So erfuhr man, dass Ruth Michel 2010 noch einmal nach Mykulytschyn gereist ist. Dort fand sie auch das Massengrab, an dem sie eine Gedenktafel aufstellen ließ.

„Haben Sie sich das aufgeschrieben?“, war noch eine Frage. Die prompte Antwort: „So eine Geschichte vergisst man nicht!“ Nach der zweiten Lesung kamen dann auch Fragen zur aktuellen Situation im Nahen Osten. Ruth Michel bezog deutliche Position für Israel, das ein Recht habe, sich nach dem nie erlebten terroristischen Akt zu verteidigen. Das sorgte im Publikum bei einigen jungen Männern für Widerspruch. „Der Friede ist in jedem Einzelnen möglich“, schlug die Autorin vor, „er kann aber nicht auf der Basis der Rache für die Toten gefunden werden.“

Nach beiden Lesungen bedankte sich die Lehrerin Caroline Fehr für den spannenden Vormittag. Jutta Birmele gab als Schulleiterin der Anna-Haag-Schule mit auf den Weg: „Lassen Sie es nie zu Hass kommen.“

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Erstellt:
14. November 2023, 14:30 Uhr

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