Studenten beklagen fehlende Perspektiven

dpa/lsw Stuttgart. Kaum soziale Kontakte, geschlossene Bibliotheken, ausgefallene Praktika und Zukunftsängste: Während des Corona-Jahres haben sich Studierende vor allem von Politikern immer wieder vergessen gefühlt. Ein Gipfel, eher ein Gipfelchen, wollte beide Seiten zusammenführen.

Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Foto: Bernd Weißbrod/dpa

Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Foto: Bernd Weißbrod/dpa

Ihre neue Universität kennt Viviana von den Driesch nur von einer Stadtführung. Seit Beginn der Corona-Pandemie sitzt die Mannheimer Studentin zu Hause und nicht im Hörsaal. Das erste Semester sei sehr deprimierend gewesen, erzählt sie. Es fehle der Ausgleich durch Sport und Gespräche, es gebe keine Nebenjobs, Studierende hätten zudem bislang kaum eine Rolle gespielt im öffentlichen Interesse und Diskurs.

Zumindest bei der kleinen Diskussionsrunde in der umgebauten Mensa der Stuttgarter Universität waren sogar Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Hochschulministerin Theresia Bauer ganz Ohr. Sie standen der jungen Studentin aus Stutensee (Kreis Karlsruhe) und einem Kommilitonen aus Esslingen am Donnerstag in einer kleinen Runde Rede und Antwort beim sogenannten StudiGipfel BW des Ministeriums. Im Mittelpunkt dabei: die Lehren aus der Pandemielage, die Probleme des mangelnden Impfstoffs und die finanziellen Sorgen von Studierenden.

Nach den ersten beiden Semestern im Corona-Lockdown und Kritik an den Auflagen für die Hochschulen räumte Kretschmann ein „Wahrnehmungsdefizit“ ein und bat die Studierenden um Entschuldigung. Es sei ihm nach Gesprächen bewusst geworden, dass die Landespolitik die Lage der Studierenden anfangs zu wenig im Blick gehabt habe, sagte er. Covid-19 sei zu Beginn vor allem für ältere Menschen gefährlich und teils tödlich gewesen. Auf sie habe sich zunächst der Fokus gerichtet. „Da junge Leute in aller Regel keine schweren Krankheitsverläufe hatten, hat man sich erstmal nicht so drum gekümmert“, räumte er ein. Zudem sei man der Ansicht gewesen, dass digitales Lernen im Studium eher gelinge als an Schulen.

Die Landesstudierendenvertretung hatte die teils prekäre Situation der angehenden Akademiker in der Corona-Krise beklagt. „Viele Studierende befinden sich weiterhin in einer schweren finanziellen Notlage“, sagte Präsidiumsmitglied Andreas Bauer von der Hochschule Mannheim. „Die politische und mediale Aufmerksamkeit lag vor allem bei den Schulen und weniger bei den Studierenden.“ Die wirtschaftlichen und akademischen Nachteile der Studenten und Studentinnen seien kaum diskutiert worden, sagte Bauer.

Kai Moltzen, im siebten Semester an der Esslinger Hochschule, sprach von einer „belastenden Zeit in der Isolation“. „Seit einem guten Jahr neun Stunden am Tag am Laptop und so langsam ist die Luft raus so ohne Perspektive, ohne konkrete Pläne“, sagte er beim „StudiGipfel“. Von Frust, Ohnmacht und fehlender Perspektive war zuvor auch bereits in den Workshops zum Gipfel immer wieder die Rede.

Nach Einschätzung von Uni-Psychologin Sabine Köster hat die Belastung seit dem vergangenen Herbst zudem sehr stark zugenommen. „Jetzt war und ist eine deutliche Erschöpfung spürbar.“ Studierenden fehle das Selbstwertgefühl, weil sie keine Wertschätzung mehr erführen und soziale Kontakte vermissten. „Viele von ihnen sind abgetaucht““, sagte Köster. Sie studieren eigentlich gar nicht mehr. Es sei daher präventiv und therapeutisch wichtig für die Studierenden, endlich auf den Campus zurückzukehren. „Studierende wollten eigentlich unterwegs sein in der Welt. Das ist derzeit aber so, als hat man eine Reise gebucht und bekommt stattdessen einen Diavortrag gezeigt.“

Ministerin Bauer rief die Hochschulen auf, die neuen Spielräume für Tutorien, Gruppenarbeit und gemeinsame Lernräume zu nutzen. Die jüngste Änderung in der Corona-Verordnung ermögliche bereits im laufenden Sommersemester mehr Präsenz über die bisher notwendigen Laborpraktika oder praktischen Bestandteile im Studium hinaus. Es sei höchste Zeit für die lange vermisste Begegnung mit Studierenden statt Software, sagte Theresia Bauer. Sie versprach, in der laufenden Legislaturperiode „in großem Stil und systematisch“ über Hochschule in der digitalen Welt zu reden.

Sie äußerte aber auch Verständnis für die Kritik von Studenten an mangelnder Aufmerksamkeit: „Die Studierenden standen viel zu lange nicht im Fokus“, sagte die Grünen-Politikerin.

© dpa-infocom, dpa:210519-99-664933/4

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Erstellt:
20. Mai 2021, 03:11 Uhr

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