Konstituierende Sitzung
Gregor Gysi stellt Bundestag vor Geduldsprobe
Die neue Parlamentspräsidentin heißt Julia Klöckner, die AfD-Fraktion ist groß wie nie und auch sonst ist vieles anders: Der neue Bundestag ist zu seiner Auftaktsitzung zusammengekommen. Die erste Rede löste bei manchen Frust aus.

© dpa/Bernd von Jutrczenka
Als Alterspräsident durfte Gregor Gysi (Linke) so lange reden, wie er wollte.
Von Tobias Peter und Rebekka Wiese
Einmal lässt Gregor Gysi seinen Charme aufblitzen – noch vor seiner Rede. „Behauptet jemand, länger als 30 Jahre und 9 Monate Mitglied des Bundestags zu sein?“, fragt er. Der 77-Jährige lacht einladend. Das sei nämlich seine Zeit, fügt der Linken-Politiker hinzu. Als Alterspräsident darf der Dienstälteste zur ersten Sitzung in der neuen Legislaturperiode die Eröffnungsrede halten. Gysi weiß: Das ist er. Jetzt kann er loslegen.
Im Bundestag hat sich viel geändert. Das zeigt am deutlichsten ein Blick von oben herab in den Plenarsaal. Die AfD nimmt rechts im Parlament so viel Platz ein wie noch nie. Sie hat 152 von 630 Sitzen im Bundestag und ist die zweitgrößte Fraktion nach der Union. Bevor die Sitzung losgeht, stehen AfD-Abgeordnete vor der Regierungsbank im Plenum und machen Gruppenfotos. Die Regierungsbank bleibt unbesetzt. Der Kanzler und die Minister sitzen bei ihren Fraktionen. Sie sind von nun an nur noch geschäftsführend im Amt – bis eine neue Regierung gebildet ist.
Nicht Gauland, sondern Gysi
Dass Gysi nun die Sitzung eröffnet, hat mittelbar auch mit der AfD zu tun. Im Jahr 2017 hat der Bundestag die Regel eingeführt, dass nicht mehr der älteste Abgeordnete die erste Rede halten und die Sitzung bis zur Wahl eines Bundestagspräsidenten leiten soll, sondern der Dienstälteste. Die Idee dahinter: verhindern, dass ein Abgeordneter der AfD Alterspräsident werden könnte. Auch diesmal wirkt die Regelung: Nicht der 84-jährige Alexander Gauland eröffnet die Sitzung, sondern Gysi.
Die Rede als Alterspräsident ist eine besondere Chance. Wer diese Rolle innehat, darf sprechen, worüber und wie lange er will. Es ist, als würde in einem Unternehmen der Mitarbeiter, der am längsten dabei ist, die Chance erhalten, so lange er will zur Belegschaft zu sprechen – und auch alle, die dort sonst etwas zu sagen haben, müssten zuhören, ob es ihnen nun gefällt oder nicht. Und klar, das Fernsehen wäre auch noch live dabei.
Gysi am Platz des Bundestagspräsidenten
Gysi steht auf an dem Platz, wo sonst die Bundestagspräsidentin oder der Bundestagspräsident sitzt. Er rückt sein Jackett noch einmal zurecht. Kurz sieht es so aus, als wolle er es zuknöpfen. Er lässt es aber offen.
Der Beginn lässt noch hoffen, es könnte eine zwar nicht von allen geteilte, aber doch interessante Rede Gysis werden. Gysi spricht über Krieg und Frieden und wirbt in sicherheitspolitischen Fragen um Respekt im Umgang mit der jeweils anderen Position. Politiker, die auf Rüstung und Abschreckung setzten, dürften nicht als Kriegstreiber beschimpft werden. Andererseits seien Menschen wie er selbst, die mehr Diplomatie und eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa einschließlich Russlands wollten, keine „Putin-Knechte“. Es gebe unterschiedliche Auffassungen, wie man zum Frieden gelange. „Wir müssen einfach lernen zu respektieren, dass es diese Unterschiede gibt.“
Karl Marx, Nahost und Weihnachtsbäume
Doch Gysi bleibt nicht bei einem leitenden Gedanken. Stattdessen gerät seine rund 40-minütige Rede zu einem seltsamen Sammelsurium. Er reiht monoton Themen und Forderungen aneinander. Der Linken-Politiker spricht über Karl Marx, die Nahostpolitik, Bildungsungerechtigkeit und Ostampelmännchen. Er plädiert für einen zusätzlichen Feiertag. Und er referiert tatsächlich umfangreich über die fünf verschiedenen Steuersätze für Weihnachtsbäume. Und all das liest Gysi von seinen Zetteln ab. Mitreißend ist das nicht.
Die Rede löst Frust aus – und Langeweile. Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz ist immer wieder mit verschränkten Armen zu sehen, tief in seinen Stuhl gesunken. Andere rutschen auf ihren Plätzen hin und her. Die Rede ist ein Beispiel dafür, was anstrengend am Parlamentarismus sein kann: auch dann zuzuhören, wenn man den anderen längst nicht mehr hören möchte.
Umstrittene Personalie Klöckner
Der eigentliche Höhepunkt des Tages ist die Wahl der neuen Bundestagspräsidentin. Die Kandidatin darf die größte Fraktion vorschlagen, und das ist nun wieder die Union. Friedrich Merz steht auf und nennt den Namen der Frau, die lächelnd neben ihm in der ersten Reihe sitzt: Julia Klöckner, frühere Landwirtschaftsministerin und Bundestagsabgeordnete aus Rheinland-Pfalz – eine Personalie, über deren Ankündigung selbst in ihrer eigenen Fraktion nicht alle glücklich gewesen sein sollen.
Klöckner fiel mehr als einmal auf, weil sie auf Social-Media-Plattformen ziemlich kontroverse Ansichten teilte. „Für das, was Ihr wollt, müsst Ihr nicht AfD wählen. Dafür gibt es eine demokratische Alternative: die CDU“, schrieb sie zum Beispiel während des Wahlkampfs auf Instagram – und löschte den Post kurze Zeit später wieder. In der CDU hat Klöckner aber auch Unterstützer – und sie hat Merz auf seinem Weg nach oben unterstützt. Das zahlt sich an diesem Tag für sie aus.
AfD-Kandidat Otten scheitert
Mit 382 Stimmen wählen die Abgeordneten Klöckner zur neuen Bundestagspräsidentin – 316 Stimmen sind für eine Mehrheit notwendig. Es ist protokollarisch das zweithöchste Amt im Staat. Klöckner ist erst die vierte Frau, die es innehat. Als Stellvertreter der Parlamentspräsidentin werden Andrea Lindholz (CSU), Josephine Ortleb (SPD), Omid Nouripour (Grüne) und Bodo Ramelow (Linke) gewählt. Der AfD-Kandidat Gerold Otten erhält drei Mal nicht die nötige Stimmenzahl und scheitert somit.
In ihrer ersten Rede bemüht sich Klöckner um versöhnliche Worte, um einen staatspolitischen Tonfall. „Eine Wahl ist weniger eine Auszeichnung, sie ist vielmehr Verpflichtung“, sagt Klöckner. Als Parlamentspräsidentin wolle sie „stets unparteiisch, unaufgeregt und auch unverzagt“ handeln und bedankt sich für den Vertrauensvorschuss.
Gute Präsidentin in schwierigen Zeiten?
Die 52-Jährige hebt hervor, wie wichtig es sei, in parlamentarischen Debatten Anstand zu wahren. „Ich werde darauf achten, dass wir ein zivilisiertes Miteinander pflegen und wenn wir das nicht tun, dann erlernen.“ Klöckner kann herzlich und überschwänglich sein – aber auch streng und schnippisch. Letzteres könnte ihr helfen, wenn sie hitzige Geschäftsordnungsdebatten moderieren oder Ordnungsrufe erteilen muss. Alles ist härter geworden im Parlament, seit die AfD eingezogen ist. Jetzt ist die AfD so stark wie nie. Wird Klöckner in diesen schwierigen Zeiten eine gute Präsidentin sein? Auch in der Union sind nicht alle sicher.
Klöckner stimmt mit ihrem Vorredner Gysi in einem überein: Es gehe auch darum, den anderen verstehen zu wollen. An diesem Tag sind ihr viele dankbar, dass sie ihre Botschaft – wenn auch nicht mit einer brillanten Rede – stärker auf den Punkt bringt als Gysi. „Wir müssen in unserem Land die Stimmung wieder verbessern, nicht uns selbst permanent schlechtreden“, sagt die neu gewählte Bundestagspräsidentin. „Dieser Optimismus-Ruck muss wieder durch unser Land gehen.“ Eine Botschaft, die auch dem Parlament guttun könnte.