Große Parteien fühlen sich benachteiligt
Das Auszählverfahren bei der Gemeinderatswahl sorgt in Backnang für Diskussionen – Gernot Gruber schlägt neues Modell vor
Eine Wahl ist eine einfache Sache, sollte man meinen: Wer die meisten Stimmen bekommt, ist gewählt. Doch ganz so einfach ist es nicht. Je nachdem, wie man auszählt, können sich unterschiedliche Sitzverteilungen ergeben. An der Methode, die in Baden-Württemberg angewendet wird, gibt es nach der Backnanger Gemeinderatswahl Kritik.
Von Kornelius Fritz
BACKNANG. Erdal Demir heißt einer von zehn neuen Backnanger Stadträten. Dem Kandidaten vom Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit (BIG) genügten 627 Stimmen, um in das Gremium einzuziehen. Regina Konrad hat hingegen den Einzug in den Gemeinderat verpasst, obwohl die Waldremser Ortsvorsteherin auf der CDU-Liste 5014 Stimmen bekam. Klingt unlogisch, hat aber seine Richtigkeit, denn für die Sitzverteilung ist die Stimmenzahl der Liste insgesamt entscheidend. BIG kam auf 8498 Stimmen. Das reichte für einen Sitz, und der ging an Demir, den Bewerber mit den meisten persönlichen Stimmen auf der BIG-Liste.
Demir verdankt seinen Sitz allerdings auch dem Auszählverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers, das in Baden-Württemberg seit 2014 bei Kommunalwahlen zum Einsatz kommt. Wären die Sitze wie früher nach dem D’Hondt-Verfahren vergeben worden, wäre die BIG-Partei leer ausgegangen, auch die Christliche Initiative Backnang (CIB) hätte dann einen Sitz weniger. CDU und Grüne hätten dafür jeweils einen Stadtrat mehr.
Aber wie kann es sein, dass dasselbe Wahlergebnis zu unterschiedlichen Sitzverteilungen führt? Der Grund ist die Rundung. Rechnet man das Backnanger Wahlergebnis eins zu eins auf die 26 Sitze im Gemeinderat um, stünden etwa der CDU 7,48 Sitze zu, der SPD 4,49 Sitze, der CIB 1,51 und der BIG 0,6. Weil es aber keine halben Stadträte gibt, muss auf ganze Sitze auf- oder abgerundet werden. Und dafür gibt es unterschiedliche mathematische Verfahren, die auf den ersten Blick kompliziert wirken.
Früher kam in Baden-Württemberg die vom belgischen Juristen Victor D’Hondt entwickelte Berechnungsmethode zur Anwendung, die allerdings in dem Ruf steht, kleine Parteien zu benachteiligen. Auf Initiative der Grünen stieg man deshalb auf Sainte-Laguë/Schepers um. Dadurch haben es kleine Parteien jetzt wesentlich leichter, einen Sitz zu bekommen. Bei der Backnanger Gemeinderatswahl hätten dafür diesmal schon 7050 Stimmen genügt, was einem prozentualen Anteil von 1,9 Prozent entspricht. Nach dem D’Hondt-Verfahren wären für einen Sitz im Gemeinderat hingegen mindestens 11850 Stimmen beziehungsweise 3,2 Prozent nötig gewesen.
OB Nopper sieht Handlungsbedarf
Kritik an dem neuen System kommt erwartungsgemäß von den großen Parteien: „An diesem Wahlsystem kann etwas nicht stimmen“, sagt die CDU-Fraktionsvorsitzende Ute Ulfert. Das Ergebnis spiegele nicht den Wählerwillen wider. Der Backnanger Oberbürgermeister Frank Nopper sieht noch ein weiteres Problem: Das neue Auszählsystem führe zu einer Zersplitterung der Gremien, eine Mehrheit zu finden, werde immer schwieriger. Nopper spricht von einer „exzessiven Ausprägung des Verhältniswahlrechts“: „Größere Städte kommen so an die Grenze der Steuerbarkeit. Das muss dringend geändert werden.“
Der Backnanger Landtagsabgeordnete und Vorsitzende des SPD-Ortsvereins, Gernot Gruber, ist studierter Mathematiker und blickt mit besonderem Sachverstand auf das Thema. Grundsätzlich sei das Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren gerecht, sagt er, allerdings nur in Kombination mit einer Sperrklausel, wie es sie etwa bei Bundes- und Landtagswahlen gibt (Fünfprozenthürde). Wo es die nicht gibt, sieht auch Gruber die Gefahr einer Zersplitterung: „Das Problem bei diesem Verfahren ist, dass man den ersten Sitz viel zu leicht bekommt“, sagt Gruber. Das habe sich auch bei der Europawahl wieder gezeigt: Die 96 deutschen EU-Parlamentarier, die am vergangenen Sonntag gewählt wurden, stammen aus 14 verschiedenen Parteien. Unter anderem schafften Vertreter der Familien-Partei, der Tierschutzpartei und der Bewegung Volt Deutschland den Einzug ins Straßburger Parlament.
Bei D’Hondt werden die Stimmenzahlen vor der Sitzverteilung durch 1, 2, 3, 4 geteilt, bei Sainte-Laguë/Schepers durch 1, 3, 5, 7. Gruber schlägt vor, beide Methoden zu kombinieren und jeweils den Mittelwert zu nehmen (1, 2,5, 4, 5,5). „Das wäre fairer nach unten und fairer nach oben.“ In seiner Fraktion hat der Abgeordnete bereits für die „Gruber-Methode“ geworben, denn er vermutet, dass einige Abgeordnete bei der Einführung des neuen Verfahrens gar nicht so genau wussten, was da beschlossen wurde.
Der SPD-Abgeordnete glaubt, dass die Grünen mit der Wahlrechtsänderungen eigene Interessen verfolgt haben, weil sie sich davon mehr Sitze erhofften. Sollte das stimmen, hat sich die Partei damit allerdings ein Eigentor geschossen. Denn inzwischen sind die Prozentwerte der Grünen in Baden-Württemberg so hoch, dass auch sie von einer Rückkehr zum alten Zählsystem profitieren würden.