Fall Gelbhaar
Grüne Intrige
Noch sind nicht alle Fakten bekannt, doch derzeit deutet viel darauf hin, dass der Grünen-Abgeordnete Stefan Gelbhaar gezielt aus den eigenen Reihen verleumdet wurde. Ein Skandal in einer Partei, die derzeit alles dafür tut, Einigkeit zu demonstrieren.
Von Rebekka Wiese
Sie sind zu zweit gekommen. Am Montagnachmittag tritt nicht nur die angekündigte Grünen-Parteichefin Franziska Brantner vor die Presse, ihr Co-Vorsitzender Felix Banaszak steht neben ihr. Sie sehen angefasst aus, jeder auf seine Art. Banaszak spricht langsam, holt tief Luft, sucht immer wieder nach Worten. Brantner runzelt die Stirn, ernst blickt sie in die Kamera, macht sich Notizen. „Ein solches Verhalten, das von krimineller Energie und Niedertracht geprägt ist, hat in unserer Partei keinen Platz“, sagt Banaszak. Seine Stimme zittert. Sie seien „persönlich betroffen und erschüttert“. Man sieht es ihm an.
Ein Belästigungsskandal mitten im Wahlkampf, das kann keine Partei gebrauchen. Es gibt allerdings etwas, das offenbar zum noch größeren Problem werden kann: ein Belästigungsskandal, bei dem sich die Vorwürfe zumindest teilweise als erfunden erweisen.
Das ist es, was die Grünen gerade erleben. Es geht um den Fall Stefan Gelbhaar. Gelbhaar ist Bundestagsabgeordneter für die Grünen, bei der vergangenen Bundestagswahl gewann er das Direktmandat für Berlin-Pankow. Auch dieses Mal stellte seine Partei ihn wieder auf. Doch dann warfen ihm mehrere Frauen Belästigung vor, Gelbhaar verlor die Kandidatur nachträglich.
Am Wochenende stellte sich aber heraus, dass mindestens die Hauptvorwürfe gegen ihn nicht stimmen. Die Grünen-Lokalpolitikerin Shirin Kreße soll die Anschuldigungen gegen Gelbhaar unter falscher Identität erfunden haben. Die Partei will Strafanzeige gegen Kreße stellen.
Der Schaden ist schon jetzt groß. Eigentlich hatten sich die Grünen vorgenommen, in diesem Wahlkampf auf Zusammenhalt und Geschlossenheit zu setzen. Doch das könnte durch den Skandal nun erschüttert werden. Denn es stellen sich viele Fragen. Nicht nur, ob und was nun eigentlich an den Vorwürfen gegen Gelbhaar dran ist. Sondern auch, wer genau hinter der Intrige steckt. Und welche Verantwortung die Parteispitze eigentlich trägt.
Es war der Rundfunksender „rbb“, der im Dezember als erstes über die Vorwürfe berichtete. Er berichtete, dass sich mehrere betroffene Frauen gemeldet hätten, zum Teil hätten sie eidesstattliche Versicherungen abgegeben. Laut Gelbhaar, der die Vorwürfe auf seiner Website aufgriff und bestritt, sollen bei der zuständigen Ombudsstelle der Grünen zwölf Meldungen von Betroffenen und weiteren sechs Meldungen von Nichtbetroffenen gegen ihn eingegangen sein. Was den Fall besonders heikel machte: Es war nicht das erste Ombudsverfahren gegen Gelbhaar. Wie er ebenfalls selbst ausführte, gab es bereits 2021 schon welche. Dabei sei es allerdings um Bemerkungen seinerseits gegangen, also nicht um körperliche Belästigung. Die Vorfälle hätten im Gespräch geklärt werden können, so schreibt es Gelbhaar selbst zumindest.
Gelbhaar sitzt seit 2017 für die Grünen im Bundestag, er wurde als Verkehrspolitiker bekannt. Er stammt aus Ostberlin, wo er 1976 geboren wurde. Nach Abitur und Zivildienst im wiedervereinten Deutschland studierte er Jura an der Humboldt Universität in Berlin und arbeitete später als Rechtsanwalt. Zur Jahrtausendwende trat er bei den Grünen ein, wurde Kreisvorsitzender, zog 2017 in den Bundestag ein. 2021 holte er das Direktmandat in Pankow mit großem Abstand. Es lief gut für Gelbhaar – bis zum 11. Dezember.
Von diesem Tag an bis zum 13. Dezember gingen bei der Ombudsstelle der Partei die Beschwerden wegen seines angeblichen Fehlverhalten ein. Es war der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für Gelbhaar: Am 14. Dezember fand die Wahl zur Aufstellung für die Landesliste der Berliner Grünen statt. Gelbhaar wollte eigentlich für den zweiten Platz kandidieren. Doch nach Veröffentlichung der Vorwürfe zog er zurück. Im Januar entzog seine Partei ihm zudem die Direktkandidatur.
Gelbhaar selbst bestritt die Vorwürfe gegen seine Person. „Das Ziel ist, mich massiv zu diskreditieren, überdies Teile der Partei in Aufruhr zu versetzen, und der Partei zu schaden“, erklärte er auf seiner Webseite. Das habe nichts mehr mit Politik zu tun. „Das ist schlichtweg kriminell.“
Es sieht so aus, als habe Gelbhaar mindestens teilweise richtig gelegen. Am Wochenende wurde bekannt, dass es die zentrale Zeugin „Anne K.“, auf deren Aussagen sich der „rbb“ bei seinen Recherchen gestützt hatte, nicht gibt. Ihre eidesstattliche Versicherung soll gefälscht gewesen sein. Der „rbb“ hatte mit der vermeintlichen Zeugin nur telefoniert, sie aber nie getroffen – ein Fehler, wie der Sender nun in einem Statement einräumte.
Die schon erwähnte Lokalpolitikerin Shirin Kreße soll die Zeugin „Anne K.“ laut Recherchen des „Tagesspiegel“ erfunden und vorgetäuscht haben. Kreße war bisher eine im linken Parteiflügel vernetzte Lokalpolitikerin, die besonders von der Grünen Jugend gestützt wurde.
Kreße hat die Vorwürfe gegen sich bisher weder bestätigt noch dementiert. Doch nachdem die Berichte am Wochenende bekannt wurden, gab sie ihren Parteiaustritt bekannt. Sie habe auch ihr lokalpolitisches Mandat zurückgegeben und ihre Arbeit bei einem Grünen-Abgeordneten gekündigt, heißt es in einer Erklärung Kreßes. „Grund dafür ist, dass während ich mich mit den Vorwürfen, die gegen mich erhoben wurden, auseinandersetze, ich möglichen Schaden von der Partei, aber auch Betroffenen sexualisierter Gewalt abwenden möchte.“ Der „rbb“ stellte ebenfalls Strafanzeige gegen sie.
Doch der Schaden ist schon angerichtet. Ein weiteres pikantes Detail in der Causa Gelbhaar: Auf seinen Platz rückte mit Andreas Audretsch ein Parteilinker nach – und der aktuelle Wahlkampfmanager der Partei. Audretsch wies allerdings die Verantwortung allerdings von sich. „Ich weiß nicht, welche Frauen Vorwürfe erhoben haben und habe mit dem gesamten Vorgang nichts zu tun“, sagte er dem „Tagesspiegel”.
Aufgeklärt ist der Fall Gelbhaar damit noch nicht. „Nicht alle Vorwürfe, über die wir berichtet haben, sind damit automatisch nichtig – ein wesentlicher Vorwurf allerdings schon”, schreibt der „rbb“ dazu. Dass Gelbhaar einen gewissen Ruf in der Partei hatte, gab er offen zu. „Dass ich mal flirte, dass ich gern offen auf Leute zugehe – ja, das mag schon sein“, sagte er im Interview mit dem Portal „Business Insider“, noch bevor die mutmaßliche Intrige gegen ihn aufflog.
Bei der Pressekonferenz sagte Parteivorsitzender Banaszak, dass sieben Personen an ihren Vorwürfen gegen Gelbhaar festhielten. Nun will die Partei eine neue Kommission einsetzen, um den Fall aufzuklären. Doch ganz gleich, wie das Verfahren ausgeht: Für Stefan Gelbhaar wird es zu spät sein. Die Frist, um ihn als Direktkandidaten aufzustellen, ist am Montagabend um 18 Uhr endgültig abgelaufen.