Kretschmanns 62 Minuten

dpa Stuttgart. In seiner ersten Regierungserklärung spannt Ministerpräsident Kretschmann den ganz großen Bogen, vom sibirischen Permafrostboden bis zu seinem Dienstwagen. Er ruft im Parlament zum Zusammenhalt auf - und ermuntert die Bürger zum Anpacken.

Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) spricht. Foto: Bernd Weißbrod/dpa/Archivbild

Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) spricht. Foto: Bernd Weißbrod/dpa/Archivbild

Vor einer Woche wurde er vom neuen Landtag erneut zum Ministerpräsidenten gewählt - nun hält Winfried Kretschmann seine erste Regierungserklärung im Parlament. Er berichtet den Abgeordneten, wo er hin will mit dem Land in den kommenden Jahren.

DIE REDE: Wann immer er es für wichtig hält, darf der Ministerpräsident das Parlament mit einer Regierungserklärung beglücken. Dabei kann er so lange reden, wie er möchte. Meist geht es um ein bestimmtes Thema, etwa den Kampf gegen die Coronakrise. Die erste Regierungserklärung in einer Legislaturperiode ist dabei ganz besonders, weil es sich um einen thematischen Rundumschlag handelt. Kretschmann stellt am Mittwoch die Vorhaben der Regierung vor. 62 Minuten nimmt er sich für seine erste große Rede Zeit. Eine Meisterleistung in der Darbietung liefert er aber nicht: Kretschmann hält sich starr an sein Skript, liest die 18 Din-A4-Seiten lange Rede vom Papier ab. Zwischendurch nippt er mal an seinem Kräutertee.

DIE ZUHÖRER: 154 Abgeordnete umfasst das neue Parlament, elf mehr als in den vergangenen fünf Jahren. 151 davon sind anwesend. Wegen der Kontaktbeschränkungen müssen viele Parlamentarier auf der Besuchertribüne Platz nehmen. Doch egal, wo sie sitzen - Grüne und CDU klatschen eifrig für ihren Ministerpräsidenten, am Ende sogar im Rhythmus. Die Oppositionsparteien halten sich zurück. Zwischenrufe gibt es kaum, höchstens kurz höhnisches Gelächter aus den Reihen der AfD. Die eigentliche Aussprache folgt erst am Donnerstag - somit haben die Fraktionen Zeit um sich vorzubereiten.

DIE INHALTE: Kretschmann zeigt die großen Linien auf, umreißt das bereits bekannte Programm, das Grüne und CDU für die nächsten Jahre gezimmert haben. Er teilt es ein in drei große Blöcke: den Klimaschutz, die Transformation der Wirtschaft, den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Er kündigt eine Stärkung von Polizisten und Schulleitern an, mehr Windkraft- und Solaranlagen, eine Ausbildungsgarantie für junge Leute, einen Mindestlohn bei öffentlichen Aufträgen und ein neues Wahlrecht, um mehr Frauen ins Parlament zu bringen. Es gehe um ein neues Kapitel für Baden-Württemberg, sagt er. Er ruft die Bürger auf, mitzumachen. Politik müsse mit den Leuten gestaltet werden, nicht gegen sie.

DER PRÄGNANTESTE VERGLEICH: Als Kretschmann den ökologischen Fortschritt in der Autoindustrie lobt, kommt er auf seinen eigenen fahrbaren Untersatz zu sprechen. Als er vor zehn Jahren Ministerpräsident geworden sei, habe er seinen Dienstwagen vom Vorgänger (Stefan Mappus, CDU) übernommen. „Der CO2-Ausstoß lag bei sage und schreibe 340 Gramm CO2 pro Kilometer.“ Sein jetziger Dienstwagen - ein Plug-in-Hybrid - stoße nur noch 57 Gramm CO2 aus. Und Daimlers neue, vollelektrische S-Klasse fahre völlig emissionsfrei, schwärmt Kretschmann.

DER SELBSTBEWUSSTESTE SPRUCH: Teils widerspricht er sich etwas, der Regierungschef. Als es um den Strukturwandel geht, behauptet Kretschmann nämlich, dass Schwaben und Badener nicht gerade zum Auftrumpfen neigen würden. Dabei zeugt so mancher Satz in seiner eigenen Rede nicht gerade von schwäbischer Bescheidenheit. So sagt Kretschmann sogar Elon Musk den Kampf an. Baden-Württemberg soll Technologieführer im Autosektor werden, in allen entscheidenden Feldern. „So sorgen wir dafür, dass Tesla bald nur noch auf unsere Rücklichter schaut.“ Nimm dich in Acht, Elon - Winfried kommt.

DIE ZITIERTEN: Keine richtige Kretschmann-Rede kommt ohne ein paar philosophische Weisheiten aus, das gibt der 73-Jährige selbst gern zu. Seine Lieblingsdenkerin Hannah Arendt lässt er diesmal nicht zu Wort kommen, dafür aber mehrere andere: Zum Beispiel den schwäbischen Landsmann Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der sagt, dass Freiheit nicht willkürlich, sondern verantwortlich sein muss. Auch SPD-Urgestein Herbert Wehner („Das Notwendige möglich machen“) und Ex-US-Präsident Barack Obama („Veränderung findet nur statt, wenn ganz normale Leute mitmachen“) müssen herhalten. Als Kretschmann am Ende zum Handeln drängt, zitiert er die Schweizer Philosophin Jeanne Hersch, die sagt, es gebe nur eine einzige, konkrete Verabredung mit der Wirklichkeit: „Die findet genau jetzt statt.“

DIE REAKTIONEN: Auch wenn die Debatte im Plenum noch aussteht, zeigte sich die Opposition naturgemäß nicht sehr begeistert. FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke nannte die Rede eine „Mogelpackung eines Ministerpräsidenten auf den letzten Metern seiner Amtszeit“. „Mit keinem Wort hat Kretschmann erwähnt, dass alle seine Versprechungen unter einem Finanzierungsvorbehalt stehen.“ SPD-Fraktionschef Andreas Stoch schimpft in die gleiche Richtung: „Kretschmann ist ganz großartig beim Wollen, aber schlecht beim Erreichen“, sagt er. „Die letzten Jahre kamen Grüne und CDU nicht vom Fleck, obwohl sie Geld hatten. Nun nehmen sie den Mangel von Geld als Entschuldigung dafür, dass nichts vorangeht.“ AfD-Fraktionschef Bernd Gögel spricht gar von einem „entsetzlichen Fahrplan ins ökosozialistische Chaos“.

Solche Sätze wird sich Kretschmann am Donnerstag wohl anhören müssen, wenn er auf der Regierungsbank Platz nimmt und die Abgeordneten auf seine Rede reagieren dürfen. Wie harsch der Ton im neuen Parlament wird, muss sich erst noch zeigen.

© dpa-infocom, dpa:210519-99-659387/5

Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) hält seine Regierungserklärung im neu gewählten Landtag von Baden-Württemberg. Foto: Bernd Weißbrod/dpa

Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) hält seine Regierungserklärung im neu gewählten Landtag von Baden-Württemberg. Foto: Bernd Weißbrod/dpa

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Erstellt:
19. Mai 2021, 12:39 Uhr

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