Schutzgemeinschaft teilt aus
Heftige Justizschelte und Kritik an EY
Am Ende eines jeden Jahres rekapituliert die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger die krassesten Verfehlungen am deutschen Kapitalmarkt. Dauerbrenner bleibt Wirecard.
Von Thomas Magenheim
Der Fall Wirecard ist mehr als ein Wirtschaftskrimi. In London verhandelt ein Gericht gegen eine Zelle bulgarischer Spione im Dienste Russlands, die mutmaßlich vom flüchtigen Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek geführt wurde. In München wurde soeben ein vor zwei Jahren begonnener Strafprozess gegen Ex-Chef Markus Braun und Mitangeklagte bis Ende 2025 verlängert. Dazu kommen Regressansprüche geschädigter Ex-Aktionäre in Milliardenhöhe. Die werden seit kurzem vor dem Bayerischen Obersten Landgericht verhandelt. Für die Kläger sieht es düster aus, glaubt man der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK). „Deutsche Institutionen haben bei der Verhinderung von Wirecard versagt, jetzt droht wieder Versagen bei der juristischen Aufarbeitung“, kritisiert SdK-Rechtsanwalt Marc Liebscher.
Denn so wie das Gericht bislang arbeitet, drohten geschädigte Aktionäre selbst bei einem Schuldspruch für die Beklagten weitgehend leer auszugehen, fürchtet der Wirecard-Experte der Aktionärsschützer.
Um diese Justizschelte zu verstehen, ist Vorwissen zu Gericht, Gesetzen aber auch der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY notwendig.
Fundamental falsche Wirecard-Bilanzen durchgewunken
Deren in Stuttgart residierender deutscher Ableger steht im Zentrum der Regressklagen auf Basis des sogenannten Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG). Zum einen hat EY jahrelang fundamental falsche Wirecard-Bilanzen durchgewunken und sich damit möglicherweise haftbar gemacht. Zum anderen ist bei EY Deutschland mutmaßlich am meisten Geld zu holen.
Das sieht auch SdK-Vorstand Daniel Bauer so. Auf 1,5 Milliarden Euro beziffert er die potenzielle Haftungsmasse der Stuttgarter. Eigentlich. Denn vor kurzem hat sich EY Deutschland völlig legal umorganisiert.
Zuvor hatten die vier EY-Sparten Steuer-, Rechts- und Unternehmensberatung sowie Wirtschaftsprüfung unter einem Dach agiert. Jetzt sind sie voneinander separiert. Zuvor hätte bei einer Verurteilung vor dem Bayerischen Obersten EY als Ganzes gehaftet, erklärt Liebscher. Jetzt hafte im Fall der Fälle nur noch die Wirtschaftsprüfung als potenziell am wenigsten werthaltiger der vier Unternehmensteile. „EY verschiebt Haftungsmasse“, kritisiert der SdK-Jurist.
Die Stuttgarter widersprechen. Zum einen sei ohnehin die ganze Schadenersatzklage nicht zulässig. Für Haftung stünden zudem vor allem Versicherungen und die Einlagen der EY-Partner zur Verfügung, was von der Umorganisation unberührt bleibe.
Diese Darstellung bringt Liebscher auf die Palme. „Das ist eine krasse Lüge“, sagt er. Um wieviel genau EY die Haftungsmasse per Umorganisation verringere, könne man erst in gut einem Jahr ausrechnen, wenn Bilanzen der jetzt getrennten EY-Gesellschaften vorliegen. „Es dürften aber mindestens drei Viertel und bis zu 99 Prozent sein“, schätzt Liebscher. Das sei nur dann nicht so, wenn das Bayerische Oberste binnen fünf Jahren zu einem Urteil komme.
„Die Justiz arbeitet schlampig“
Denn für die Zeitspanne gilt eine sogenannte Nachhaftungspflicht, für Gesellschaften, die wie EY aufgespalten wurden. Binnen solcher Zeiträume müsste ein Urteil fallen, hat der deutsche Gesetzgeber einmal gedacht. Bei KapmuG-Verfahren ist das aber selten der Fall, womit die Justiz ins Spiel kommt.
Im Jahr der Wirecard-Pleite 2020 sei die erste Schadenersatzklage eingereicht worden, erinnert Liebscher. Begonnen habe der KapMuG-Prozess diesen November also erst vier Jahre später. Allein ein Jahr habe es gedauert, bis das Gericht einen Musterkläger ausgewählt hatte, weitere eineinhalb Jahre, um die Klage zu prüfen. Die juristische Vorarbeit der Vorgängerinstanz Landgericht habe das Bayerische Oberste dabei als von äußerst zweifelhafter Qualität abgekanzelt. Es selbst sei aber seiner Verpflichtung nicht nachgekommen, den Fall zu strukturieren. Als Folge hätten Klägeranwälte dicke Schriftsätze verfasst, weil das Gericht nicht erklärt habe, was ihm wichtig ist und sie auf der sicheren Seite sein wollten.
„Die Justiz arbeitet schlampig, langsam und ist nicht digitalisiert“, kritisiert Liebscher. Letzteres führe zu zusätzlicher Verzögerung. Im Zusammenspiel mit den Winkelzügen von EY sei das für Kläger fatal.
SdK verweist auf Länder wie die USA, Frankreich oder Großbritannien, wo Gerichte in Wirtschaftsangelegenheiten bei weniger Richtern pro Einwohner schneller arbeiteten. Das Versagen der deutschen Justiz mit extrem langen Wirtschaftsprozessdauern schrecke mittlerweile ausländische Anleger vom deutschen Kapitalmarkt ab. „Sie ziehen sich nicht zurück, weil sie im Streitfall kein Urteil im eigenen Sinn bekommen, sondern weil viele Jahre lang überhaupt kein Urteil ergeht“, betont Marc Liebscher. Im KapMuG-Verfahren weiterverhandelt wird am 28. Februar 2025.