„Max Achtziger“ kämpft gegen Tod von Brummi-Fahrern
dpa/lsw Mannheim. Traurige Bilanz bei tödlichen Lkw-Unfällen: Im vergangenen Jahr starb mehr als ein Berufskraftfahrer pro Woche auf Deutschlands Autobahnen. Ein Zehn-Punkte-Programm soll die Fahrer und ihre Arbeitgeber zu mehr Verantwortungsbewusstsein verpflichten.
Die Zahl tödlicher Unfälle auf Deutschlands Straßen ist im vergangenen Jahr auf einen historischen Tiefstand gefallen - aber bei einer Gruppe von Verkehrsteilnehmern schnellen die Todeszahlen nach oben. Im Jahr 2021 ließen 70 Berufskraftfahrer (Vorjahr 48) ihr Leben auf Autobahnen an Stauenden. Der wohl letzte getötete Fahrer des Jahres 2021 fuhr kurz vor Weihnachten auf der Autobahn 3 in der Oberpfalz auf einen stehenden Militärkonvoi auf und starb in den Flammen.
„Das ist ein gegenläufiger Trend, den niemand wahrhaben will“, sagt Dieter Schäfer vom Vorstand des Vereins „Hellwach mit 80 km/h“. Der Verband mit 44 Mitgliedern, darunter mittelständische und große Speditionen, setzt sich für mehr Sicherheit für Berufskraftfahrer ein und will sie mit Hilfe der Identifikationsfigur „Max Achtziger“ auf mehr Achtsamkeit einschwören.
Die Gesamtzahl der im Straßenverkehr umgekommenen Menschen ist laut Schätzung des Statistischen Bundesamtes 2021 wegen coronabedingt geringeren Verkehrsaufkommens um zehn Prozent auf 2450 im vergangenen Jahr gesunken. Das wäre der niedrigste Stand seit Beginn der Statistik vor mehr als 65 Jahren. Bei den Brummi-Fahrern hingegen verzeichnete der Verein „Hellwach“ 2021 eine Steigerung um 46 Prozent.
Die Horrorunfälle passieren meist in Spitzenzeiten mit erhöhtem Verkehrsaufkommen auf Transitstrecken am Ende eines Staus vor einer Dauerbaustelle, wie Schäfer, der frühere Chef der Mannheimer Verkehrspolizeidirektion, erzählt. Oft ungebremst rasen dort die bis zu 40 Tonnen schweren Fahrzeuge in das vor ihnen stehende Gefährt, so dass die Fahrer in ihren Kabinen eingeklemmt werden.
Fahrerassistenzsysteme sind meistens eingebaut, aber das Verhalten der Fahrer beraubt sie ihres Nutzens. „Sie schrecken kurz vor der Kollision auf und ziehen automatisch das Lenkrad zur Seite und unterbrechen dadurch die Bremskaskade“, erläutert Schäfer. Viele Fahrer seien in die mittlerweile verbreitete Technik der Notbremssysteme ihrer komplexen Fahrzeuge gar nicht eingewiesen: „Bei den Speditionen gibt es bei der Fortbildung noch viel Luft nach oben.“
Fehlleistungen sind auch Folge widriger Arbeits- und Lebensbedingungen: Die Fahrer müssen schon am Nachmittag nach einem der raren Stellplätze für die Nacht Ausschau halten. Haben sie schließlich einen Stellplatz ergattert, ist wegen des Lärms der nahen Autobahn an erholsamen Schlaf nicht zu denken. „Kein Wunder, wenn übermüdete Fahrer dann in Sekundenschlaf fallen“, meint Vereinssprecher Schäfer. Bei einer 2020 veröffentlichten Umfrage habe jeder vierte Fahrer angegeben, im Vorjahr ein- bis dreimal am Steuer eingeschlafen zu sein.
Die Fahrer stehen auch wegen eng getakteter Lieferketten unter Druck. Kommen sie infolge von Staus verspätet an den Ausladerampen an, müssen sie sich hinten in der Schlange anstellen, erzählt Schäfer. Hier könne Digitalisierung Abhilfe schaffen.
Ein Sprinterfahrer, der nicht mit Namen genannt werden will, beobachtet zunehmend ruppigen Umgang bei den Empfängern: „Da wird einem nicht mal guten Tag gesagt.“ Von den Fahrern werde das Abladen der Ware verlangt, obwohl das gar nicht ihre Aufgabe sei. Und oft seien die Rampen unbesetzt, so dass die Brummi-Fahrer zum Warten verurteilt seien. Aus seiner Sicht ist das größte Problem die Müdigkeit am Steuer. Er sei froh, dass er bei Fahrten ins Ausland 60 Euro für ein Hotelzimmer bekomme - auf freiwilliger Basis.
„Fernfahrer ist schon lange kein Sehnsuchtsberuf mehr“, resümiert Schäfer. Bei mehr Wertschätzung für die „Kapitäne der Straße“ würde sich die Branche nach Überzeugung des 64-Jährigen bei der Suche nach Nachwuchs leichter tun. Derzeit fehlen laut Bundesverband Spedition und Logistik etwa 60.000 bis 80.000 Fernfahrer in Deutschland. Jährlich wachse die Lücke um 15.000.
Manche Fahrer versuchen, Verspätungen durch das Manipulieren der Software für vorgeschriebene Ruhezeiten oder durch Rasen zu kompensieren. „Zwar haben wir das Tempolimit 80, aber die meisten Fahrer beachten dies nicht, weil ihnen bis 88 Kilometer nichts passiert“, erklärt Schäfer. Die Kulanz beträgt drei Kilometer, eine Überschreitung um weitere fünf Kilometer gelte als unbedeutende Ordnungswidrigkeit ohne Verwarnungsgeld. Im Ländervergleich gehe Deutschland sehr gnädig mit Temposündern um. Die Bußgelder müssten auf europäisches Niveau angehoben werden, um Raser europaweit verfolgen zu können. Zudem müsse die Zahl der Kontrollen deutlich steigen.
Die Unfallbrennpunkte sind zudem für die Anrainer-Kommunen sehr belastend. Ihre Feuerwehren müssen die Toten aus den zerquetschten Führerhäusern bergen.
Als hellwachen Vertreter seiner Zunft hat die Initiative „Max Achtziger“ kreiert. Die Identifikationsfigur ruft auf mehreren Zehntausenden Flyern in allen europäischen Sprachen zu Regeltreue auf: Kein Tippen auf dem Smartphone, kein Kochen, Essen, Umziehen oder Lesen während der Fahrt. Der Verein strebt eine Selbstverpflichtung der Fahrer und der Unternehmen auf das Zehn-Punkte-Programm an. Schäfer hofft, bald bedeutende Autobauer mit ins Boot zu holen. Der Verkehrspolizist im Ruhestand ist zuversichtlich, in der neuen Ampelkoalition und im Bundesverkehrsministerium Mitstreiter zu finden: „Ich bin sicher, 2022 wird ein Max-Achtziger Jahr.“
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