„Im Fußball ist nicht alles messbar“

Macht der VAR das Spiel gerechter? Warum werden ähnliche Vergehen unterschiedlich bewertet? Wann erklären die Unparteiischen ihre Entscheidungen über die Stadionlautsprecher? Viele Fragen – Knut Kircher, der Chef der deutschen Topschiedsrichter, gibt die Antworten.

Ex-Fifa-Schiedsrichter Knut Kircher beim Besuch unserer Redaktion – der Chef der deutschen Topschiedsrichter gibt spannende Einblicke und erklärt, was er weiter verbessern will.

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Ex-Fifa-Schiedsrichter Knut Kircher beim Besuch unserer Redaktion – der Chef der deutschen Topschiedsrichter gibt spannende Einblicke und erklärt, was er weiter verbessern will.

Von Jochen Klingovsky

Stuttgart - Es sei Teil seines Jobs, das „Gesicht von Fehlern zu sein“. Sagt Knut Kircher – der diese Aufgabe dennoch übernommen hat. Seit einem halben Jahr ist der ehemalige Fifa-Referee Geschäftsführer der DFB Schiedsrichter GmbH. Zeit für eine Zwischenbilanz – für die sich der 55-Jährige viel Zeit genommen hat. Brisante Themen gibt es schließlich genug.

Herr Kircher, Sie sind jetzt ein halbes Jahr im Amt und seither sehr präsent in den Medien – ganz bewusst?

Selbstverständlich. Zu meiner Rolle gehört es, nicht andere vorzuschicken, zumal es mein persönliches Ziel ist, einen Imagewandel hinzubekommen, auch wenn dies alles andere als einfach ist.

Weil Schiedsrichter vor allem dann ein Thema sind, wenn es Fehler oder strittige Szenen gibt?

Klar ist doch: Wenn ein Schiedsrichter gelobt wird, dann ist nicht der Geschäftsführer hinter ihm gefragt. Teil meines Jobs ist es, das Gesicht von Fehlern zu sein.

Sie sind angetreten mit dem Ziel, dass es künftig weniger korrigierende Interventionen durch die Video-Assistenten (VAR) im Kölner Keller gibt. Wie sieht es nach 15 Bundesliga-Spieltagen aus?

Sehr gut!

Sehr gut?

Wir hatten 30 Prozent weniger Eingriffe.

Wie sind die konkreten Zahlen?

Bisher waren es 50 Interventionen – im gleichen Zeitraum der Vorsaison lagen wir bei 72. Wobei man die Art der Eingriffe unterscheiden muss.

Inwiefern?

Es gibt die faktischen Entscheidungen – zum Beispiel die Frage: „Abseits oder nicht?“ Da ist Messbarkeit gegeben, die Technik funktioniert. Wir schauen eher auf die nicht faktischen Entscheidungen, zum Beispiel bei Handspielen oder Fouls im Strafraum.

Wie sieht es da aus?

Die Zahl ist deutlich zurückgegangen. Derzeit sind es 31 korrigierende Eingriffe, vor einem Jahr waren es 47. Wenn diese Tendenz so weitergeht und wir am Ende 30 Prozent weniger VAR-Interventionen hätten, wäre ich glücklich. Denn aus meiner Sicht heißt das, dass mehr Entscheidungen auf dem Feld belassen wurden und die Qualität dieser Entscheidungen deutlich höher gewesen ist.

Das war Ihr zweites großes Ziel.

Richtig. Ich sehe auch bei der Qualität der Entscheidungen eine positive Entwicklung. Und ich sehe junge Schiedsrichter, die in der Bundesliga mehr und mehr zu Leistungsträgern geworden sind.

An wen denken Sie?

Zum Beispiel an Martin Petersen oder Tobias Reichel – zwei Schiedsrichter, bei denen sich die Leistung positiv entwickelt hat.

Zurück zu dem, was in dieser Saison auf dem Platz passiert ist. Wie viele Szenen gab es an den ersten 15 Spieltagen, die Sie anders entschieden hätten, als es der Schiedsrichter im Zusammenspiel mit seinen Video-Assistenten getan hat?

Da führe ich keine Statistik – doch ich denke, dass sich diese Situationen an einer Hand abzählen lassen.

Können Sie damit leben?

Hier auf null zu kommen ist bei der Vielzahl an Entscheidungen nicht realistisch. Schiedsrichter sind keine Roboter. Deshalb kann ich mit dieser Quote sehr gut leben.

Trotzdem kritisieren viele Beteiligte weiterhin, dass bei vermeintlich ähnlichen Vergehen immer wieder unterschiedlich entschieden wird.

Dies zu verbessern ist eine Aufgabe von uns. Das Problem dabei ist, dass wir uns immer in einem Korridor bewegen. Es kann niemals eine einzige unverrückbare Linie geben, denn das Regelwerk als solches regelt nur einen Toleranzbereich, es bietet Ermessensspielräume. Idealerweise gehen wir alle mit derselben Grundhaltung an die Sache heran. Unsere Empfehlung an die Schiedsrichter lautet: Weniger ist mehr – sie sollen also eher defensiv vorgehen und nur die klaren Dinge pfeifen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen wir das Spiel des VfB Stuttgart gegen den FSV Mainz 05. Jonathan Burkardt ist auf dem Weg aus dem Strafraum, Enzo Millot berührt mit dem Arm seinen Fuß, es kommt bei Burkardt zu einem sogenannten Gehfehler und einem Elfmeterpfiff. Wir haben diese Szene bei einer Tagung in Köln den Managern aller Clubs vorgespielt. Es war sehr aufschlussreich: Die Hälfte sagte Strafstoß, die andere Hälfte meinte, so einen Pfiff brauche der Fußball nicht. Was sagt uns das? Diese Entscheidung lag im Ermessen des Schiedsrichters, denen wir raten, in solchen Situationen eher defensiv zu agieren.

Also war der Pfiff falsch?

Es gibt nicht immer die völlige Klarheit. Diesen Elfmeter konnte man geben.

Dabei hat doch die Einführung des Videobeweises die Hoffnung genährt, dass mehr Klarheit ins Spiel kommt.

Wenn jemand erwartet hat, dass der Video Assistant Referee die Regeln in Schwarz und Weiß aufteilen kann, dann kann ich nur sagen: Wir haben das niemandem versprochen. Und das war auch nicht der Anspruch. Im Beipackzettel des Hilfsmittels VAR steht nicht, dass von nun an alles klar geregelt wird. Im Fußball ist nun mal nicht alles messbar – und das ist super. So bleiben die Emotionen im Spiel.

Und die Diskussionen auch.

Ich finde das gut. Diskussionen, gerade über Schiedsrichter-Entscheidungen, gehören zum Fußball. Und die Schiedsrichter müssen das aushalten.

Ab wann werden die Unparteiischen in der Bundesliga strittige Entscheidungen über die Stadionlautsprecher erklären?

An dem Thema, das man zum Beispiel aus dem American Football kennt und das auch im Fußball schon getestet wurde, wird intensiv gearbeitet. Letztlich liegt die Entscheidungshoheit nicht bei uns, sondern bei der DFL. Aber wenn es zeitnah so kommen sollte, wären wir darauf vorbereitet.

Das heißt, dass die Unparteiischen bereits geschult worden sind?

Da sind wir dran.

Würden die Schiedsrichter die Einführung begrüßen?

Auf diese Art und Weise eine Erklärung abzugeben, das macht niemand gerne, weil es in einer ohnehin schon stressigen Situation eine zusätzliche Belastung bedeutet. Aber es gehört zum Jobprofil, auch die Menschen im Stadion, die beim Thema Transparenz ein Stück weit abgehängt sind, zu informieren.

Kann es sein, dass dieser Service noch in der laufenden Saison gestartet wird?

Das könnte sein, aber es gibt noch keine finale Entscheidung und damit auch keinen genauen Startzeitpunkt.

Was bei der Europameisterschaft super funktioniert hat, war die Regel, dass sich nur die Kapitäne der Teams in entscheidenden Szenen an den Schiedsrichter wenden dürfen. Warum klappt das in der Bundesliga nicht?

Es funktioniert, aber nicht durchgängig. Wir sind gut in die Saison gestartet, haben dann allerdings nachgelassen, weshalb auch nachgesteuert wurde. Doch letztlich ist alles eine Frage der Kultur und des Umgangs miteinander.

Der sich nur langsam ändern lässt?

Ja, das muss sich entwickeln – bei Spielern und Trainern. Dort liegt mit die Verantwortung für den Kulturwandel, den es braucht.

Am Ende der Partie des VfB Stuttgart gegen Berlin gab es kürzlich fünf Gelbe Karten für protestierende Union-Profis. War das richtig?

Das war sehr konsequent. Tobias Welz ist dafür von uns und hinterher auch vom Union-Manager gelobt worden. Wir haben die Unterstützung, derart durchzugreifen. Doch lieber wäre uns, wenn dies nicht nötig wäre.

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Erstellt:
27. Dezember 2024, 22:08 Uhr
Aktualisiert:
28. Dezember 2024, 21:55 Uhr

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