Abschiebungen in Baden-Württemberg
In der Regel ist der Flüchtling flüchtig
In Baden-Württemberg scheitern viele Versuche, Asylbewerber in ein anderes EU-Land abzuschieben, auch am behördlichen Schwergang.
Von Jörg Nauke
Nach der gescheiterten Abschiebung des mutmaßlichen Attentäters von Solingen im Rahmen des Dublin-III-Abkommens nach Bulgarien, wo er zum ersten Mal EU-Territorium betreten hatte, ist Kritik an der Vorgehensweise der Behörden laut geworden. Dabei ist das Scheitern von Überstellungen in EU-Länder, die auf den ersten Blick leichter erscheinen als solche in die von Krieg und Hungersnot geplagten Heimatländer der Flüchtlinge auch in Baden-Württemberg eher die Regel als die Ausnahme. Ziel des Verfahrens ist es, doppelten Aufwand bei der Antragsstellung zu vermeiden. In der Folge bleiben die Asylverfahren dennoch meist an den deutschen Behörden hängen.
Begünstigt wird die schlechte Quote bei Abschiebungen, von denen naturgemäß nicht nur Straftäter betroffen sind, sondern auch Fachkräfte oder Familien mit Kindern, unter anderem wegen der sehr kurzen Frist von sechs Monaten, in der das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Asylantrag abzulehnen und die Abschiebung in den Ländern in die Wege leiten muss. Das gilt von dem Zeitpunkt an, wenn das zur Aufnahme bereite EU-Land seine Zustimmung erteilt hat. Diese Frist verstreicht aber oft, und dafür gibt es viele Gründe.
Behördlicher Schwergang gehört dazu. Liegen nach der Asylantragstellung in der zuständigen Stelle des BAMF Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedsstaates vor, wird die Akte an die zuständige Zweigstelle weitergereicht, die ein Übernahme-Ersuchen erstellt. Stimmt der Mitgliedstaat zu, stellt das BAMF die Unzulässigkeit des Asylantrags fest und ordnet die Abschiebung an. Flugzeuge müssen vorgehalten und die Polizei informiert werden. Laut eines Flüchtlingsanwalts liegen oft vier Monate zwischen der Zustimmung des EU-Landes und der Abschiebungsanordnung.
Geschickten Verteidigern gelingt es häufig, die übrigen zwei Monate zu überbrücken. Sie reichen Klage beim Verwaltungsgericht gegen den ablehnenden Bescheid ein, der zwar – wie beim Tatverdächtigen in Solingen – in aller Regel keine aufschiebende Wirkung hat; außerdem begänne bei einer Klageabweisung die Sechsmonatsfrist erneut. Allerdings wird zeitgleich ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt. Und vor einer gerichtlichen Entscheidung über diesen Eilantrag, dessen Bearbeitung dank anwaltlicher Finesse mehrere Wochen in Anspruch nehmen kann, – ist eine Abschiebung nicht zulässig. Ist die Frist dann vorher abgelaufen, hebt das BAMF seinen Abschiebebescheid notgedrungen wieder auf und die Verwaltungsgerichte, stellen, obwohl sie meist eigentlich anders geurteilt hätten, die Klage des Asylbewerbers gegen seine Ausweisung ein.
Anwälte wie Flüchtingsorganisationen betonen, gute Gründe anführen zu können, die für einen Verbleib von Asylbewerbern in Deutschland sprechen. Vor allem, wenn die Abschiebung in Länder an den äußeren Süd- oder Ostgrenzen Europas erfolgen soll, denen unerträgliche Lebensbedingungen für Asylbewerber attestiert werden. Dazu zählt etwa Italien, wo Flüchtlingen, wenn sie erst einmal die Lager verlassen haben, keine Hilfe mehr gewährt wird und Obdachlosigkeit droht, was nach Ansicht von Asylexperten einen klaren Rechtsbruch darstellt. Auch Bulgarien steht bei Nichtregierungsorganisationen in der Kritik. Sie widersprechen der Haltung des BAMF, dass dort keine Menschenrechtsverletzungen zu befürchten seien und die Durchführung von Asylverfahren keine systemischen Mängel aufweise. Auch Kroatien wird kritisch gesehen: Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat 2022 eine Abschiebung dorthin untersagt, weil Rückkehrer damals sofort über die EU-Außengrenze nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina gebracht wurden. Andere Gründe sind etwa Krankheit oder Mutterschutz. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge müssen zudem explizit einer Abschiebung zustimmen.
Ein Eilantrag mit Weile
Gute Gründe gegen Abschiebung
Hauptgrund für die geringen Überstellungszahlen ist nach Auskunft des für Baden-Württemberg zuständigen Regierungspräsidiums (RP) Karlsruhe der Umstand, dass am Ende des Dublin-Verfahrens der Betroffene oft nicht greifbar ist. In Baden-Württemberg scheiterten im vergangenen Jahr 1740 Überstellungsversuche, davon 1002 wegen Untertauchens und Nichtantreffens. In diesem Jahr waren es bis Ende Juli 1240 gescheiterte Abschiebungen, 784 mal hatte man die Personen nicht angetroffen. In der Region Stuttgart (mit Göppingen) scheiterten im vergangenen Jahr 509 Versuche (338 wegen Untertauchens oder Nichtantreffens), in diesem Jahr waren es 362 Versuche, 227 traf die Polizei an der Meldeadresse niemanden an.
Dahinter muss gar keine Absicht stecken. Mitunter sind die Betroffenen berufstätig oder aus anderen plausiblen Gründen nicht greifbar. Das RP kann dann eine Anwesenheitspflicht in der Unterkunft zwischen 24 und fünf Uhr verfügen. Der personelle Aufwand für die Polizei ist allerdings erheblich. Erst im Wiederholungsfall gilt der Asylbewerber als „untergetaucht“. Dass sich die Frist zur Überstellung in solchen Fällen um zwölf Monate erhöhen kann, wirkt offenbar nicht abschreckend. Beim Tatverdächtigen aus Solingen war darauf verzichtet worden.